Kapitel 6. Anna Mosegaard, Mein Leben als Dienstmagd 1895
Kapitel 22. Konrad Adenauer, Kriegsende 1945
Kapitel 28. Florian Seidl, Beatmusik-Begeisterung 1965
TEIL I. BLICK ZURÜCK INS KAISERREICH
Zum Text: Anna Mosegaard (1881-1954) grew up in an orphanage and began working as a maid when she was 14 years old. After two unhappy years on the job, she quit and found new employment at unionized tobacco factories. Mosegaard later became involved with political party workings and joined the Social Democrats (Sozialdemokraten ). She also worked as a free lance journalist for the Stuttgart newspaper Die Gleichheit where she published the following autobiographical account under the title "Die >unsittlichen< Dienstboten?" (immoral servants?) in 1910. The author discusses her experiences as a young maid in middle class homes, and remembers the constant sexual harassment she faced from employers and their children. Mosegaard's text reflects on other newspaper articles published during the same year, in which local politicians had warned about the dangers of child abuse through the hands of "immoral" young women servants.
Mein Dienstherr, ein stattlicher Mann in den fünfziger Jahren, reichte mir bei meiner Ankunft wohlwollend die Hand: "Na, da bist du ja! Wenn du recht fleißig und ehrlich bist, will ich dir nicht nur ein freundlicher Dienstherr, sondern ein Vater sein." So hatte seit Jahren niemand zu mir gesprochen. Ich hätte dem Mann die Hände küssen mögen. Er, der hochangesehene Herr, wollte mir ein Vater sein!...
Ja, das war, als ich 14 Jahre alt war. Als ich noch nicht volle 16 Lenze zählte, stand mein Dienstherr lüstern vor meiner Kammertür. Er, der mir hatte ein Vater sein wollen! Ich suchte mit Einwilligung meiner Heimatbehörde so schnell wie möglich eine andere Stellung, und als ich ging, besaß der Mann den Mut, einem gerade anwesenden Herrn salbungsvoll zu erklären: "In Kinderschuhen habe ich sie gekriegt, in Kinderschuhen lasse ich sie ziehen." Sein Verdienst war es wahrhaftig nicht.
Ich kam nun zu einem jungen Ehepaar, der Mann war Rechtsanwalt. Das Schlafzimmer, das ich mit der Köchin teilen mußte, lag hinter der Küche und diente nebenbei zur Aufbewahrung schmutziger Wäsche. Der Weg zum Klosett ging durch unseren Schalfraum. Die Tür dazu durfte deshalb nicht verschlossen werden; der Herr Rechtsanwalt pflegte nämlich jeden Abend, wenn er aus dem Klub nach Hause kam, noch einmal den Abort aufzusuchen. Für ein junges Mädchen ist es gerade kein beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß jede Nacht ein Mann durchs Schlafzimmer geht. Von der unhygienischen und ekelhaften Seite der Nachbarschaft des Klosetts will ich nicht erst reden. Doch zurück zur Hauptsache. Durch einen Lichtschein geweckt und geblendet, öffnete ich eines Nachts die Augen und erblickte einen sehr angeheiterten königlich preußischen Leutnant mit einer Kerze in der Hand vor meinem Bett. Der Herr Rechtsanwalt steht dabei und will vor Lachen bersten.
Sobald es möglich war, kehrte ich dem "gastfreundlichen" Haus den Rücken und zog auf gut Glück in die Familie eines reichen Fabrikanten. Ich kam vom Regen in die Traufe. Mann und Frau führten eine ganz konventionelle Ehe, die nur unter dem Druck äußerer Umstände zusammenhielt. Als die heiße Zeit nahte, suchte die Gnädige in einem Seebad Kühlung. Die beiden jüngsten Kinder und den Strohwitwer überließ sie meiner Obhut. Mir ahnte nichts Gutes, und meine Befürchtungen trafen ein. Im Beisein seiner Kinder machte mir der Herr schamlose "Liebeserklärungen." Als alle Versprechungen ihn nicht zum Ziele brachten, wollte er Gewalt brauchen, als er mich eines Tages allein zu Hause antraf. Mit knapper Not entkam ich ihm und hatte für alle Zeit genug von der vielgepriesenen Sittlichkeit der "besseren Leute." Mein Brot verdiente ich mir von da an als Fabrikarbeiterin.
From Anna Mosegaard, "Die >unsittlichen< Dienstboten?". Die Gleichheit, 1911.
fleißig ________ schnell ________ niemand ________
beruhigend _______
stattlich _______ wohlwollend ____ die Ankunft ______
das Glück ________
freundlich _____ schmutzig ______ ehrlich __________
hygienisch ________
Übung. Grammatik: Rewrite the following sentences in the
present tense.
1. Man schickte mich hinaus ins Leben.
2. Ich war von der Heimatbehörde vermietet worden.
3. Ich zählte noch keine sechzehn Lenze.
4. So hatte seit Jahren niemand mit mir gesprochen.
5. Mein Dienstherr stand lüstern vor der Kammertür.
6. Er hatte mir ein Vater sein wollen.
7. Der Strohwitwer hatte zwei Kinder.
8. Die Tür durfte nicht verschlossen werden.
9. Alle Versprechungen brachten ihn nicht zum Ziel.
10. Ich zog auf gut Glück ab.
Übung. Fragen.
1. Wie alt war Anna als sie von der Stadtbehörde vermietet wurde?
2. Wie begrüßte der stattliche Dienstherr das
Dienstmädchen?
3. Was tat der hochangesehene Herr zwei Jahre später?
4. Wo war Annas Schlafzimmer bei der Familie des Rechtsanwalts?
5. Warum hatte Anna kein beruhigendes Gefühl in der Nacht?
6. Was machte der Leutnant mit der Kerze im Haus des Fabrikanten?
7. Wo war die Frau des Fabrikanten im Sommer?
8 Warum wollte der Fabrikant Gewalt brauchen?
9. Wo verdiente sich Anna später ihr Brot?
Übung. Konversation.
1. Welche unsittlichen Delikte erwähnt Anna Mosegaard in ihrem
Bericht?
2. Wie reagierte Anna auf diese Gefahren bei der Arbeit?
3. Was für ein Familienleben fand Anna im Haus des Fabrikanten?
4. Was denken Sie über die Vorkommnisse in den Häusern der
Dienstherrn?
5. Welche Vorteile bringt Anna die Arbeit in der Fabrik? Welche
Nachteile?
6. Wann machten Sie Ihre erste Reise allein? Erzählen Sie kurz.
7. Erzählen Sie von Ihrer ersten bezahlten Arbeit als Jugendlicher.
(Wann, wo, was?)
Übung. Komposition.
1. Kennen Sie ähnliche Berichte? Beschreiben Sie Ihre Gedanken zu
diesem Thema!
2. Schreiben Sie einen Leserbrief an Anna Mosegaard. (Sehr geehrte Frau
Mosegaard! É)
Zum Text: Konrad Adenauer, born in the Rhineland in 1876,
was raised as the child of devout Roman Catholics. Although Konrad's
father worked long hours as a court secretary in Cologne, his parents
found themselves in constant financial straights and could not afford to
send their gifted son to college. While working for one of the city's
banks, however, Adenauer secured a grant from a scholarship foundation in
Cologne and was able to continue with his education. He studied law and
eventually joined the staff of the State Prosecutor's office. From there
he went on to work with a private firm, building his reputation. Konrad
began his career in government on the local level in 1906. During the
Twenties he was elected Mayor of Cologne. Following Hitler's victory at
the polls, Adenauer, an outspoken critic of the regime, was put on the
black lists of the Nazis, and incarcerated during the war. After
Germany's defeat in 1945, Adenauer became the leader of the newly found
Christian Democratic Union (CDU) and on September 15, 1949 was elected
first Chancellor of the Federal Republic, a post he held for three
consecutive terms. Adenauer died at the age of 91 in Cologne.
Am Morgen des 8. März rief meine Schwester, Frau Lilly Suth, bei uns in Rhöndorf an. Sie war mit ihrem Mann von Köln nach Unkel, einem Ort rheinaufwärts von Rhöndorf, gezogen, da ihre Wohnung in Köln zerstört war. Sie sprach in aufgeregtem Ton und sagte: "Wir sind schon frei, bei uns sind Amerikaner, übrigens ganz nette Leute." Später stellten wir fest, daß wir durch die Fronten hindurch telefoniert hatten; die Fernsprechzentrale in Honnef umfaßte auch Unkel, das von den amerikanischen Truppen besetzt worden war, während Honnef-Rhöndorf noch in deutscher Hand war.
Ich hatte rechtzeitig für meine Familie in unserem Weinkeller, der hinter unserem Haus im Berg liegt, eine notdürftige, Schutz bietende Unterkunft herrichten lassen. In diesem Keller hielten wir uns nunmehr die meiste Zeit des Tages auf. Unter der Decke in einem Korb hing das jüngste Kind meines ältesten Sohnes, der zwei Monate alte Konradin.
Der Kreis in unserem Keller war übrigens in der Zwischenzeit auf achtzehn Personen angewachsen. Louis, ein französicher Kriegsgefangener, der bei mir aushilfsweise im Garten gearbeitet hatte, war zu uns gekommen und bat für sich und - wie er sagte - zwei seiner Kameraden um Unterschlupf.
Er und seine Kameraden waren aus einem Kriegsgefangenenlager entwichen, weil sie fürchteten, daß sie von den sich zurürckziehenden deutschen Truppen ins Innere Deutschlands gebracht werden könnten. Sie hatten große Angst wegen ihres weiteren Schicksals. Ich erklärte mich gerne bereit, sie bei uns aufzunehmen. Es waren aber nicht drei, sondern insgesamt vier Franzosen. Wir rückten im Bunker enger zusammen und warteten so das Kriegsende ab. Die Trinkwasserfrage war bei einer so großen Zahl von Menschen, die versorgt werden mußten, schwierig. Die Wasserleitung funktionierte nicht mehr, eine Quelle war etwa 200 Meter entfernt. Morgens gegen sieben Uhr machten die amerikanischen Truppen eine einstündige Pause im Beschießen des rechten Rheinufers. Anscheinend nahmen sie zu dieser Zeit ihr Frühstück ein. Während dieser Stunde mußten zwei meiner Töchter, an Gartenmauern Deckung suchend, sich zu der Quelle schleichen und für vierundzwanzig Stunden das Trinkwasser holen.
Acht Tage hatten wir in unserem Keller verbracht. Dann rückten die Amerikaner in Rhöndorf ein, die Beschießungen hörten auf. Die deutschen Truppen, die im Wald hinter meinem Haus in Schützengräben lagen, zogen sich zurück.
Die Anordnungen der Amerikaner waren zwar hart und drückend, aber für uns war der Kampf, der Krieg und der Nationalsozialismus vorbei, und das tröstete über manches hinweg. Auf der Rheinuferstraße rollten die amerikanischen Panzer, eine riesige Kolonne, in Richtung Köln.
From Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945-1953. Stuttgart: DVA
1965.
Zum Text: The author of the following sketch was born in 1948 in Munich where he grew up in a middle class family during the decade of Germany's "economic miracle". After enrolling at the local university to study political science, Seidl became involved with the student movement of the Sixties and its body politics based on civil rights, personal liberation, and collective activism. Seidl remembers the restlessness of his teenage years, the profound impact of Rock and Roll music, and his generation's enthusiastic experiments with new forms of social activism.
1963 wurde ich fünfzehn und in der Schule immer schlechter. Doch noch blieb ich braver Sohn meiner Eltern und interessierte mich für Politik, Kunst, Film, Theater und all die anderen Angelegenheiten der Erwachsenen, über die man in der Zeitung lesen konnte. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, hörte ich nach dem Essen Jazz...
Dafür begann die Politik zuweilen spannend zu werden für den, der sich dafür interessierte: Spiegelaffaire1 , Profumoskandal 2 , Kubakrise3 und ein Idol: J.F. Kennedy, strahlend jung, gut aussehend, intelligent, neue Grenzen verheißend. Am 22. November 1963 war ich im Prinzregentenstadion bei einem Eishockeyspiel Deutschland-Schweiz. Das Spiel wurde wegen der Ermordung Kennedeys abgebrochen. Alle verstummten plötzlich und gingen bedrückt nach Hause. Ich war vollkommen schockiert. Als wir im Radio den Nachruf Willy Brandts hörten, mußte ich weinen.
Ich war nie mehr bei einem Eishockeyspiel, doch etwa fünfzehn Jahre später war ich in einem Traum wieder im Prinzregentenstadion: es spielten die Beatles, unterstützt unter anderem von Muhammed Ali, gegen die Rolling Stones. Das Traumszenario markierte exakt den Beginn meiner Beatles- und Beatmusik-Begeisterung; hier im Prinzregentenstadion war es, als zur Langeweile die Trauer dazukam, und es viel Identifikations- und Idolsehnsucht gab, doch nirgendwo ein Objekt der obskuren Begierde. In dieser Trauer und Leere hörten viele Jugendliche auf dem Kontinent oder in den USA genauer hin auf das, worüber seit einigen Monaten aus England berichtet wurde. Da gab es eine Gruppe, die schockierend lange, nach vorn gekämmte Haare hatte, "Pilzköpfe", bei deren Konzerten die Mädchen zu Tausenden hysterisch schrien und die sich "Beatles" nannten. Schlimmes las man zunächst über diese "Mistkäfer" oder "Mädchen". Es dauerte eine Weile, bis man auch im Radio von ihnen hörte, die gemütlichen Jazzonkels im Bayrischen Rundfunk lästerten bis ihnen das Lachen verging, aber man konnte ja auf den AFN4 oder Radio Luxemburg umschalten.
1 Zensurskandal um das Nachrichtenmagazin Der Spiegel
2 Englischer Spionage- und Sexskandal
3 Politische Krise um die Stationierung russischer Raketen in Kuba.
4 AFN. American Forces Network, Rundfunkstation der U.S.
Streitkräfte in der BRD.
From Florian Seidl, "Beatmusik-Begeisterung" in L'80 Zeitschrift für
Literatur und Politik. Ed. by Heinrich Böll, no. 38 (June 1986), p.
58-60.
Konversation
1. Welche Themen behandelte die neue Musik (rock & roll)?
2. Was für Leben führte der Autor, als er 15 Jahre alt war?
3. Warum begann die Politik 1963 spannend (exciting) zu werden?
4. Wie reagierten die Leute im Stadion auf den Tod Kennedy's?
5. Warum schaltete der Autor oft das Radio auf AFN oder Radio Luxemburg
um?
6. Wie denken Sie über die 60er Jahre und die Ideale der damaligen
Jugend?
Kurzreferate. Sehen Sie nach in der Bibliothek und berichten Sie
über eines der folgenden Themen. (Die Zeit, Der Spiegel,
Frankfurter Allgemeine Zeitung , etc. )
1. Studentenunruhen in der Bundesrepublik Deutschland, 1968.
2. Bericht über die BRD (Kultur, Geschichte) im Jahr Ihrer Geburt.
3. Bericht über die DDR (Kultur, Geschichte) im Jahr Ihrer Geburt.