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Ernst Toller Book. Inhalt
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Ernst Toller und die
Weimarer Republik 1918-1933





Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte



Andreas Lixl-Purcell

Carl Winter Universitätsverlag
Heidelberg 1986
ISBN 3-533-03852-1 [paperback]
ISBN 3-533-03853-X [hardcover]




Einleitung




I. Ein Unterrichtsausschuß des preußischen Landtags setzte am 25. November 1931 einen Entschließungsantrag durch, demgemäß es fortan verboten war, Ernst Tollers Erstlingsdrama "Die Wandlung" in die Lehrpläne für Mittelschulen und Gymnasien aufzunehmen. Als Begründung nannte die Behörde den angeblich wehrzersetzenden Charakter dieses Stationenstiücks aus dem Ersten Weltkrieg, sowie den Tatbestand einer vorsätzlichen Erweichung und Verwilderung der Moral unter der Schuljugend Deutschlands [l]. Zwei Jahre später wurde dieses Verbot für das ganze Reich obligatorisch. Ja, als sich im April 1933 das neugegründete "Hauptamt für Presse und Propaganda" im Sinne der nationalsozialistischen Säuberungsaktionen gegen die "jüdische Zersetzung" aussprach, verbrannte man kurzerhand das Werk Tollers auf dem Scheiterhaufen.

Mehr als fünfzig Jahre sind seitdem vergangen, doch das Oeuvre Ernst Tollers zälhlt noch immer zu den Stiefkindern der deutschen Literaturgeschichte. Seine Dramen, Gedichte und Prosaarbeiten vermitteln die unbequeme Denkart eines Schriftstellers, der sich ins kulturelle und politische Spektrum der Weimarer Kulturlandschaft nicht leicht einreihen läßt. Toller befand sich stets außerhalb der eingebten Denkschemata seiner Zeit. Er gehörte einer kleinen Minorität von Pazifisten, Sozialisten und Antifaschisten an, die schon 1917 gegen den Krieg agitierten und in ihrer Literatur eine politische Waffe gegen die blinde nationalistische Ekstase eines mißverstandenen deutschen Gemeinschaftsgefühls erblickten. Ernst Tollers künstlerische Offensiven förderten den Kampf gegen monarchistische Traditionen und wirkten zugleich als Appell für ein demokratisches Deutschland. Während die Weimarer Republik seit ihrer Erschaffung jedoch monarchistischen Interessen Gehör verschuf, verfolgte und zensurierte der Staat Demokraten und Republikaner vom Schlage Tollers.

Auch die ästhetischen und politischen Maßstlbe, über welche die Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre verfügte, standen in krassem Widerspruch gegenüber einem Kulturverständnis mit radikal neuen und demokratisch revolutionären Zielsetzungen. Schriftsteller, die wie Toller nicht länger gewillt waren, Literatur und Politik als Gegensätze aufzufassen, sondern beide Bereiche als Ausdruck ein und desselben Wirkens begriffen, gerieten indes fast zwangsläufig in das Schußfeld chauvinistischer Literaturkritik. Der von rechts geschürte Patriotismus und Irrationalismus gegen Ende des Jahrzehnts verband sich mit einer immer schroffer werdenden Ablehnung der Weimarer Republik und all derer, die sich auf demokratischer Ebene zu ihr bekannten. In konservativen Kreisen empfand man nichts als Ekel und Widerwillen beim Gedanken an das Erbe der Novemberrevolution und der Literatur einer Bewegung, wie sie der Expressionismus hervorgebracht und Ernst Toller vertreten hatte. Die sozial und republikanisch orientierte Dramatik der Linksexpressionisten und allen voran das Theater Ernst Tollers handelte sich somit von vornherein den Vorwurf ein, zu zeitbezogen, zu pazifistisch tendenziös, und politisch zu provokativ zu sein.

Diese Einschätzung Tollers, dessen Ruhm bis 1933 selbst den Georg Kaisers oder Bertolt Brechts bei weitem übertroffen hatte, blieb in der Bundesrepublik bis in die frühen sechziger Jahre geltend. Gemäß einer Ablehnug, deren ideologische Wurzeln bis in die Spätphase der Weimarer Republik zurückreichten, leuchtete sein Name für viele Interpreten bloß als "Stern dritter Ordnung" [2], wobei Tollers Werk häufig unter den Aspekten "jugendlicher Protest", "Märtyrerdramatik" oder abwertend unter der Rubrik "Spätexpressionismus" ad acta gelegt wurde [3].

Obgleich sich über die Arbeiten Bertolt Brechts, Friedrich Wolfs, Johannes R. Bechers oder Anna Seghers die Dissertationen und Interpretationen häuften, verblieb das Schaffen Ernst Tollers im kulturgeschichtlichen Abseits und und sein literarischer Nachlaß im Schatten der Werke seiner Zeitgenossen. Vier Dekaden nach der Verbrennung seiner Bücher und der Vertreibung Tollers aus Deutschland lagen bis in die siebziger Jahre außer einer kleinen Anzahl von Einzelinterprätationen und Werkanalysen nur wenige Abhandlungen vor, die sich auf den Werdegang dieses Dichters durch die Weimarer Republik konzentrierten. Doch selbst hier stand jeweils nur ein Teilaspekt im Vordergrund, mochte dies nun den Expressionisten oder den Antifaschisten Toller betreffen. Eine synthetische Darstellung, welche gleichzeitig Werk und Rezeption, Biographie und Kulturgeschichte in Verbindung setzt, ist somit das Ziel der vorliegenden Analyse. Dabei soll es nicht allein um die Rehabilitierung eines kontroversen literarischen Erbes gehen soll, sondern auch um die Aufarbeitung eines sozialistischen Demokratie- und Republikverständnisses, wie es so kompromißlos und selbstbeuußt in Deutschland selten zu finden war.


II. "Mein Freund Ernst Toller hat zu viel Herz für die anderen, um an sein eingenes Werk zu denken," [4] schrieb Lion Feuchtwanger zur Erinnerung an den Tod des Dichters im Jahre 1939, "wenn einer, dann war er eine Kerze, die, an beiden Enden angezündet, verbrannte." Jene brisante Mischung von liberal, sozial, politisch und ästhetisch aufgeschlossenen Autoren, zu denen in der Weimarer Republik neben Toller auch Erich Mühsam, Oskar Maria Craf, Kurt Tucholsky, Erwin Piscator oder Willi Münzenberg zählten, übte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und im Verlauf der sogenannten zwanziger Jahre einen mächtigen Einfluß auf die kriegsverseuchte kulturelle und politische Landschaft Deutschlands aus.

Leidenschaftliche Rebellion gegen das "Kriegsgemetzel" in Europa vermischten sich bei Ernst Toller mit einem zutiefst humanistisch verstandenen Sozialismus und Internationalismus, was sowohl seine früheren expressionistisch konzipierten Revolutionsdramen als auch das spätere realistische Revue- und Dokumentartheater auszeichnete.

Die Aktualität des Werkes Tollers galt im linksintellektuellen Lager bis zur Auflösung der Republik als das Paradigma engagierter Dramatik und Publizistik schlechthin. Schließlich bemühte sich Ernst Toller wie kaum ein anderer um einen Ausgleich der schwelenden und nicht zum Austrag gelangenden Konflikte seiner Zeit. Als Ziel hatte Toller nicht die politische Linie einer Partei im Kampf für Gleichheit und Freiheit im Sinne eines abstrakten Loyalittsbegriffs vor Augen, sondern eine praktisch verstandene Solidarität mit allen Arbeiterorganisationen, "gleich welcher Partei oder Gruppe sie angehörten" . Die proletarische Praxis der nationalen und internationalen Verständigung bedeutete ihm dabei mehr als alle parteigebundenen Tagesparolen oder Etappenerfolge [5].

Tollers Dichtung galt den Wehrlosen und Verstummten, den Betrogenen und Besiegten der Novemberrevolution in Deutschland, allen voran aber der Jugend, die wie er für den Pazifismus und die Republik alles aufs Spiel gesetzt und 1918 alles verloren hatte. Wie viele andere der zwischen 1885 und 1900 Geborenen teilte Ernst Toller die tragische Enttäuschung, erkannt zu haben, daß der Verlauf der Ceschichte durch keinen auch noch so hohen Einsatz einzelner zu verhindern war, und daß folglich in der Politik wie in der Kunst ein anderes Ethos von Nöten war, als jenes vom Universalstellenwert romantisch-heldenhafter Führerindividuen.

Innerhalb dieses oppositionellen Rollenmodells von Literatur kam dem sozialistischen Dichter die Aufgabe zu, als Politiker und Anwalt im Auftrag derer zu wirken, die sich nicht selber mit dem Talent des Rhetorikers zur Wehr setzen konnten. Im kategorischen Anspruch Tollers auf politischen Dezentralismus, Republikanismus und Pazifismus, erschien ihm das Wirkungsfeld des Dichters kongruent zu werden mit dem sozialistischen Stellungskampf der Arbeiterbewegung nach den politisch mißlungenen Solidarisierungsversuchen in München und Berlin.

Seine Dramatik und Publizistik erachtete Ernst Toller in erster Linie als Mittel, um die Erinnerung an die revolutionären Utopien einer demokratischen Entwicklung Deutschlands nicht abreissen zu lassen. Denn durch den Zusammenbruch zunächst der Monarchie und später der bayrischen Räterepublik unmittelbar nach dem Krieg drohte der junge Weimarer Staat im Fahrwasser des Bürgerkriegs und der Inflation zu versumpfen.

So radikal wie in Ernst Toller hatte nicht einmal die Generation der 1848er einen Sprecher gefunden, der wie er siebzig Jahre danach unermüdlich und mutig seine Stimme erhob, um diesen selbstbewußten Anspruch auf demokratisch engagierte Dichtung durchzusetzen. "Vom Schreibtisch her Einfluß auf die Politik seiner Zeit zu gewinnen" [6], so formulierte Ernst Toller den Auftrag des Schriftstellers in der Weimarer Republik. Doch so kategorisch diese Forderung und das Selbstverständnis Tollers stets wirkten, so bewußt blieb er sich zeitlebens, daß der traurige "Schutthaufen der Revolution" [7] daraufhindeutete, wie in den Zeiten einer, wie Otto Lehmann Rüssbült sie nannte, "blutigen Rüstungsinternationale", humane Dichter nur begrenzten gesellschaftlichen Einfluß ausübten.

Der 'Pulsschlag der Massen", den Toller in seinen Werken ertönen lassen wollte , stand daher des öfteren im Widersproch zur Nüchternheit seiner Schriften, mit denen er den kulturellen Ungleichzeitigkeiten seiner Epoche den Spiegel vorhielt. Die operativen Zielsetzungen seiner Literatur- und Kulturpolitik verpflichteten sich dabei einer utopischen Vorstellung von Menschenrechten [8], die sich allzusehr am Widerspruch von Mensch und Gesellschaft, individueller und kollektiver Körperschaft orientierte, um sich vom ideologischen Ballast des Liberalismus ganz befreien zu können. Doch Toller als "Menschheitsträumer" [9], "Schwärmer" oder in erster Linie "Jugend" abzutun, wie es in der Sekundärliteratur lange Zeit üblich war [10], schüttete das Kind mit dem Bade aus. Daß solche Urteile weniger ber den Rang seiner Dichtung aussagten, sondern eher ber den defizitären Erwartungshorizont einzelner Kritiker Auskunft gaben, bedarf wohl keiner Erläuterung. Ernst Toller war im Gegensatz zu vielen seiner Rezensenten kein Autor, der sich bemühte, im bürgerlichen Sinne über den Parteien zu stehen, sondern er scheute sich nicht, dem Proletariat seine Stimme zu leihen, und sich mit ihm zu solidarisieren.


III. Nicht zu Unrecht verglich einst Arnold Zweig den Charakter seines Freundes Ernst Toller mit der Gestalt aus Gerhard Hauptmanns gleichnamigen Stiick "Florian Geyer", dessen Schicksal als schwarzer Rebell in den Bauernaufständen in Süddeutschland dem Tollers in der Münchner Räterepublik in mehr als einer Hinsicht glich. "Ein brennend Recht floß durch sein Herz", so heißt es bei Hauptmann, und mit derselben Vehemenz entbrannte auch in Ernst Toller die Leidenschaft für eine Revolution der sozialen Gerechtigkeit [11]. Toller empfand eine stille Liebe zu Deutschland, die ihn wie seinen Vorgänger Heinrich Heine zugleich romantisch zum Schwärmen bringen konnte oder schmerzlich auf seine Rolle als enfant terrible seiner Zeit zurckverwies.

Skepsis und lautstarke Proklamation gehörten ebenso zur Dichtung Tollers wie Kritik und Appell [l2]. An diesen beiden Polen entzündete sich die Literatur Tollers und seine politische Praxis. In jener Kombination vermittelte sich auch die Wirkung und Brisanz seines Werkes. Um die von ihm herbeigesehnte "Revolutionierung des Herzens" zu bewerkstelligen, bedurfte es sowohl der Leidenschaften als auch des Verstands. Toller deswegen eine ideologische Hitzköpfigkeit zu diagnostizieren, oder ihn gar als politischen Fanatiker abzustempeln, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil dies nicht bloß den Protest und die Entschloßenheit seiner Dichtung mißversteht, sondern auch die Provokation zur Gerechtigkeit in seiner Ästhetik.

Warum diese leicht festzustellende und detailliert nachweisbare Kontinuität im Denken Tollers lange nicht als Kennzeichen seiner Literatur erkannt wurde, deutet auf eine Unsicherheit bei der Benennung seines antifaschistischen und zugleich parteilosen Engagements hin, als dessen wortgewaltigster Sprecher Toller in der Weimarer Republik allemal gelten kann.

Ernst Toller sitzt, wenn man den gängigen Einreihungsversuchen der Sekundärliteratur Glauben schenken will, noch immer zwischen den Stühlen. Bei Carel ter Har schwankt er zwischen den Polen Appell und Resignation, bei Thomas Biitow gabelt sich sein Werk zwischen den paradigmatischen Fluchtpunkten Pazifismus und Revolution, während Wolfgang Rothe in einer neueren Monographie das Oeuvre Tollers zwischen den Polen Patriotismus und Pazifismus aufteilt [l3].

Den ursprünglichen Anstoß für diese zweigleisige Rezeption gab Toller selber durch seine riskante Beteiligung an der Münchner Räterrepublik 1918-19, über die seit jeher die Meinungen der einschlägigen Autobiographik und politischen Erinnerungsarbeit auseinandergingen. Während ihn Liberale damals wie heute vorwiegend als unorthodoxen Marxisten und literarischen Renegaten einordnen, werfen ihm kommunistische Kritiker seit seiner Kontroverse 1919 mit dem Führer der Münchner Fraktion Eugen Levine vor, einen "visionären Sozialismus" [l4] verfochten zu haben, dessen politische Ausrichtung bereits 1918 viel zu idealistisch und verschwommen war, um die Wirren der rauhen Wirklichkeit deutscher Nachkriegsverhältnisse zu überdauern. Inwiefern diese Distanzierungsversuche der KPD Toller gegenüber vom Lagerdenken dieser Partei nach 1925 diktiert wurden und inwiefern sich Tollers alternatives Republikverständnis von dem der Kommunisten unterschied, soll im dritten Kapitel am Beispiel seiner Bemühungen um eine Justizreform näher behandelt werden.

Im Widersprch zur Propaganda für die Bolschewisierung der Partei und zur These vom "Sozialismus in einem Land", bemühte sich Toller schon sehr früh um eine breite, überparteiliche Einheitsfront aller linken Parteien gegen die Konterrevolution. Diese Solidarisierungsversuche quer durch alle Arbeiterparteien und Gruppierungen der linken Szene standen jedoch in krassem Gegensatz zum strategisch opportunen Zusammenspiel der KPD mit den Republikgegnern, sobald es um die "Einheitsfront" gegen die Sozialdemokratie ging [15].

Ernst Tollers moralisch fundierte Abneigung gegen den gelegentlicben Autoritätsfimmel und Byzantinismus der KPD machte ihn zum Repräsentanten der Jugend Deutschlands [16]. Ein Blick in die von Walter Hammer zwischen 1920 und 1928 herausgegebene Zeitschrift "Junge Menschen" zeigt seinen großen Einfluß als mutigen Sprecher für den Frieden und eine Reform des Unterrichts- und Justizwesens der Republik. Toller sah in der Jugend und ihren Vereinen, Gewerkschaften und Verbindungen ein politisch weitgehend noch intaktes Potential sozialistischen Denkens, welches er durch sein Theater der Demaskierung und satirischen Zeitkritik aktivieren wollte. Dies erklärt auch den abgrundtiefen Haß und die Verachtung der Person Tollers und seiner Dramatik bei den eingangs erwähnten Zensoren am Ende der Republik, als man vor allem der Jugend ihren internationalen Pazifimus zum Vorwurf machte und sie erneut dazu erziehen wollte, tüchtige Verteidiger deutschen Bluts und Bodens zu werden.

Tollers emphatische Ablehnung des Nationalismus und seine Außenseiterperspektive gegenüber der KPD drängten ihn in die Rolle eines literarischen Weltenbummlers, der sowohl im rechten wie auch orthodox linken Lager angefeindet wurde [l7]. Die Legende um seine persönliche Beteiligung an der Münchner Revolution prägte nachhaltig das Bild des Schriftstellers Toller, welches aus der literarischen Durchschlagskraft und den Qualitäten seiner Theaterstücke allein nicht erklärbar ist. Je zweigleisiger die Rezeption, desto ambivalenter verlief auch der Identifikationsprozeß seiner Leser und Kritiker.

Innerhalb der DDR-Forschung distanzierte man sich stets vor dem parteiunabhängigen, linksintellektuellen Engagements dieses "Vorläufers des Sozialismus' [l8], wobei Tollers republikanische Publizistik der Jahre nach 1925 entweder gar keine oder nur geringe Beachtung fand. Mit Ausnahme der Nachkriegsjahre, als es vor allem der Antifaschist Toller war, dem man in einer Werkausgabe gedachte [l9], wurde seine Literatur unter den "ferner liefen" geführt. Während Schriftsteller aus der Vorkriegszeit entweder nach programmatischen oder ästhetischen Kriterien beurteilt wurden, geriet man beim Fall Toller in sichtbare Verlegenheit, wenn es um die Tendenz seiner Literatur nach dem Inflationsjahren 1923-24 ging. Mitunter behalf man sich zwar mit unverbindlichen oder ausschließenden Begriffen wie "Sozialutopist", "Linksbürgerlicher', oder "Avantgardist" [20], bisweilen auch mit einer Ausleihe von den Nachbarkünsten unter den Schlagworten "Neue Sachlichkeit" oder Nachexpressionismus" [21], doch selbst die auf Toller gemünzten Schilderungen als Wegbereiter eines sozialistischen Realismus blieben im Grunde Interpretationen ex nenativo.


IV. Was Toller im Deutschland der Nachkriegsjahre jedoch politisch zum Verhängnis wurde, nämlich seine Überparteilichkeit und das hohe Pathos seiner Wirkungsintention - gereichte ihm im Ausland zu Anerkennung und Gehör. Ernst Toller gehörte in der Sowjetunion schon in den zwanziger Jahren zu den gefeierten Dramatikern und Lyrikern [22]. Übersetzungen seiner Dramen und Prosawerke erschienen dort zwischen 1920 und 1935 in dreizehn Auflagen. Tollers internationale Wirkung bestätigt die Zahl der Veröffentlichungen seiner Arbeiten in mehr als 20 Sprachen. Seine Theaterstücke wurden in London, Dublin, Helsinki, Tokio, Prag, Paris, Wien, Moskau und New York aufgeführt, und wirkten nicht selten als Schrittmacher einer internationalen Rezeption der in Deutschland häufig denunzierten und verfolgten expressionistischen Schriftstellergarde. Tollers weltweiter Ruhm bis in die Mitte der dreißiger Jahre widerlegt somit die oft geäußerte Meinung, derzufolge der Expressionismus ein rein innerdeutsches Phänomen gewesen wäre, das ohne nennenswerten Einfluß auf die literarische Produktion des Auslandes blieb.

Fast will es auf den ersten Blick erscheinen, daß auf Ernst Toller wie auf kaum einen anderen deutschen Dichter der Moderne jene Worte Schillers passen, die da lauten "von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte" [23]. Mag zwar das Gehader und die Legende um den Namen Toller das Weimarer Rezeptionsergebnis recht zutreffend charakterisieren, so überliefert die internationale Wirkung seiner Tätigkeit ein ganz anderes und weitaus überzeugenderes Profil dieses Autors.

In der amerikanischen Germanistik kam es im Umkreis einiger neuerer Untersuchungen zur Sozial- und Wirkungsgeschichte der Weimarer Republik zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit dem literarischen Erbe Tollers. Vor allem sein unermüdlich geführter Kampf gegen den Faschismus gewann ihm die Sympathie mehrerer kritischer Interpretationen. Neben Jost Hermands Analyse zur kulturgeschichtlichen Dialektik in Tollers Dramen der späten zwanziger Jahre und Rosmarie Altenhofers Dissertation zur Tendenz seiner politischen Dramatik sticht vor allem Michael Ossars Abhandlung über den Anarchismus Tollers ins Auge, wenngleich in dieser Arbeit der Schwerpunkt im Frühwerk Tollers verankert bleibt [24].

Bezüglich der politischen Ausrichtung seiner literarischen Kampagne nach 1922 überzeugt am ehesten der von Istvan Deak in Umlauf gebrachte Begriff des Linksintellektuellen, der besonders auf Toller zutrifft [25]. Darunter sind vor allem jene Autoren gemeint, die sich auf Grund ihrer Erfahrungen in der wilhelminischen Gesellschaftsordnung nach dem Ersten Weltkrieg vorwiegend um die Zeitschrift "Die Weltbühne" gruppierten, dort aber wie Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky die marxistische Praxis ablehnten oder zumindest stark relativierten.

Will man somit den literarischen Feldzug Ernst Tollers durch die Weimarer Republik kulturgeschichtlich irgendwie einreihen, so gehört er am ehesten zu jener kleinen Schar von Dichtern, die sich der Idee und Praxis einer gesamtlinken Front verschrieben hatten [26] und ungeachtet des Parteienstreits für eine Verständigung aller antifaschistisch gesinnten Kräfte eintraten. Daß er damit zwangsläufig zwischen die Fronten des Weimarer Kulturkampfes geriet, kann nicht überraschen. Tollers Eigenmächtigkeit spricht jedoch weit eher für als gegen ihn, denn sie beleuchtet die einseitige Anschauung all derer, die von vornherein jegliche M6glichkeit verwarfen, sich an der Suche nach alternativen politischen Lösungen zu beteiligen.

Das polarisierte Klima der sechziger Jahre sowie die Hinwendung zu einer operativen Ästhetik sicherten Ernst Toller das historische Interesse derjenigen, die sich wie er um eine Aktualisierung realistischer und dokumentarischer Dramenkonzepte bemühten. Radikalismus und Sozialismu s rückten wieder ins Zentrum der Ideologiedebatten, und damit auch das Werk eines kontroversen Kulturpolitikers und Literaten, der nicht zu Unrecht der deutsche Shulman Rushdi der zwanziger Jahre genannt werden kann.

Die Wiederentdeckung Tollers ging Hand in Hand mit der Aufarbeitung der Geschichte der Weimarer Republik. Während frühere Untersuchungen zur Geschichte Weimar Deutschlands hauptsächlich das "Leitmotiv" des Versagens der Republik variierten [27], bemühten sich neuere Arbeiten um ein historisches Verständnis der sozialgeschichtlichen Varianten dieser Entwicklung [28]. Statt die Weimarer Republik lediglich als vierzehnjähriges Intermezzo zu betrachten, und nach dem kurzen historischen Schluckauf den unvermeidlichen "Weg ins Dritte Reich" [29] vorwegzupostulieren, analysierte man die kultur- und sozialpolitischen Fronten innerhalb der Weimarer Demokratie, deren Wirtschaftsordnung die Herausbildung eines republikanischen Konsens wirkungsvoll verhinderte. Inwiefern dies auch die noch immer gängige Dreiteilung der Geschichte der Weimarer Republik in Frage stellt, derzufolge nach den Revolutions- und Inflationsjahren eine Periode der "relativen Stabilisierung" folgte, die ihrerseits ab 1929 in eine Phase der latenten Krise überleitete, sei vorläufig nur angedeutet.

Die Weimarer Republik blieb in vielerlei Hinsicht dem Kaiserreich und dessen obrigkeitshöriger Justiz, einer im Imperialismusdenken geschulten Armee und ihrer Industrie verbunden. Dies läßt die deutsche Entwicklung ab 1918 weit weniger als Bruch mit der Tradition erscheinen, sondern in mancherlei Hinsicht als konsequente Fortsetzung des monarchistischen Sozialstaates. Das Erbe des Kaiserreichs bestimmte den Kurs der Republik weit mehr als das kurze Zwischenspiel der Revolution nach 1918. Mit der Wahl Hindenburgs 1925 zum Reichspräsidenten war die Republik nur sieben Jahre nach ihrer Ausrufung von der ihr feindlichen militaristischen Tradition eingeholt worden.

Im Lichte dieser Kontinuitlt der überholten monarchistischen Wertvorstellungen innerhalb der Weimarer Republik erklärt sich auch der verdoppelte literarische Feldzug Tollers nach 1925. Der Kampf um die Verwirklichung der Demokratie war zugleich ein Kampf gegen die verseuchten Institutionen der Republik. Nicht Resignation, sondern eine Verdoppelung des literarischen Engagements kennzeichnen die Literatur Tollers nach dem Expressionismus. In dieser seiner chiliastischen Wirkungsabsicht zeichnen die Schriften Ernst Tollers und seine Dramatik ein sehr realistisches Bild der stürmischen Entwicklung Deutschlands zwischen 1918 und 1933. Wie immer bei Toller das Zusammentreffen von Messianismus und Sozialismus, von Parteilichkeit, Tendenz und utopischer Spekulation zu begreifen ist, seine literarische Wendung vom Expressionisten zum Realisten signalisierte die Abkehr vom jugendlichen Programm einer "geistigen Erneuerung".

Diese Entwicklung zum Realisten und Republikaner zu dokumentieren, und anhand seiner politischen Prämissen das gängige Bild vom 'ewigen Expressionisten" zurechtzurücken, umgrenzt somit den Rahmen der vorliegenden Untersuchung zum Werk Ernst Tollers in der Weimarer Republik von 1918-1933.



Fußnoten



1 Vgl. dazu: Lyzealexpressionismus in Preußen. In: "Neue Sächsische Schulzeitung", IX (1932), 2, S. 21-22. Vgl. auch: 1. Entschließungsantrag der Deutschen Volkspartei. In: "Die Schulpflege". 49 (1931), S. 626-627.

2 Zur Rezeption Tollers vgl. Jost Hermand, "Unbequeme Literatur. Eine Beispielreihe". Heidelberg 1971. S. 128-149.

3 John M. Spalek, "Ernst Toller and his Critics. A Bibliography. Charlottesville; Virginia, 1968, S. 824.

4 Lion Feuchtwanger, Dem toten Ernst Toller, In: "Centum Oouscula" Rudolfstadt 1956. S. 539.

5 Cornelia Dittmar, "Die Dramen Ernst Tollers und ihre Grundlage in der Philosophie Gustav Landauers. Magisterarbeit, Freie Universität Berlin 1980. S. 16f.

6 Ernst Toller, "Gesammelte Werke". Hrsg. von John M. Spalek und Wolfgang Frühwald. München 1978. Band 5, S. 30f.

7 Toller, "Werke", Band 1, S. 69.

8 Vgl. Alexander von Bormann, Nämlich der Mensch ist unbekannt. Ein dramatischer Disput über Humanität und Revolution. In: "Wissen aus Erfahrung. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Hermann Mever zum Geburtstag". Tübingen 1976. S. 851-880. Vgl. auch Michael Löwy, Jewish Messianism and Libertarian Utopia in Central Europe. In: "New German Critique. Special Issue on Germans and Jews", 20 (1980), S. 105-115.

9 Ernst Heilborn, Die Wandlung: In: "Frankfurter Zeitung", VI (1919), Morgenblatt Nr. 747.

10 Max Hochdorf, Ernst Toller. In: "Vorwärts", 502 (1919), Abendausgabe, S. 2.

11 Arnold, Zweig, In Memoriam Ernst Toller. In: "Neue Texte", 2 (1962), Herbst, S. 41.

12 Thomas Anz, Ernst Toller aktuell? In: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 74, 29. März 1983, S. 16.

13 Carel ter Haar, "Ernst Toller. Appell oder Resignation?" München 1977. Thomas Bütow, "Der Konflikt zwischen Revolution und Pazifismus im Werk Ernst Tollers". Hamburg 1975. Wolfgang Rothe, "Toller". Reinbek bei Hamburg 1983.

14 Rosa Meyer-Levine, "Levine. Levin. Leben und Tod eines Revolutionärs". Frankfurt 1974. Kapitel III.

15 Vgl. "Der deutsche Kommunismus. Dokumente." Hrsg. von Hermann Weber. Köln 1963. S. 102ff.

16 Vgl. Tollers Publikum. In: Kurt Tucholsky, "Gesammelte Werke". Hrsg. von Mary Cerold Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1960/1961. Band 2, S. 202.

17 Klaus Petersen, "Die Gruppe 1925". Geschichte und Soziologie einer Schriftstellervereinigung. Heidelberg 1981. S. 130.

18 "Geschichte der deutschen Literatur 1917-1945." Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin 1973. S. 92ff.

19 Ernst Toller, "Ausgewählte Schriften". Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Berlin 1959.

20 Vgl. Kaufmann, "Geschichte der deutschen Literatur 1917-1945", S. 73 f.

21 Joachim Fiebach, "Von Craig bis Brecht". Berlin 1975. 3. Kapitel. Zur Debatte über die Periodisierungsversuche vgl. Horst Denkler, Die Literaturtheorie der zwanziger Jahre. In: "Monatshefte", LIX (1967), S. 305-319. Ebenso Helmut Kreuzer, Zur Periodisierung der modernen deutschen Literatur. In: "Basis", II (1971), S. 7ff. Vgl. auch Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), "Die sogenannten Zwanziper Jahre". Bad Homburg, 1970.

22 Vgl. dazu Spalek, "Bibliography". S. 109-113.

23 Zit. bei Ernst Schürer. Literarisches Engagement und politische Praxis: Das Vorbild Ernst Tollers. In: "Rezeption der deutschen Gegenwartsliteratur im Ausland". Internationale Forschung zur neueren deutschen Literatur. Hrsg. von Dietrich Pappenfuß. Stuttgart 1976. S. 353.

24 John M. Spalek, Ernst Toller: The Need for a New Estimate. In: "The German Quarterly", XXXIX (1966), 1, S. 581-598. Michael Ossar, "Anarchism in the Dramas of Ernst Toller". Albany 1980. Martha Marks, "Ernst Toller: His Fight against Fascism". Diss. Wisconsin, 1980. Rosemarie Altenhofer, "Ernst Tollers Politische Dramatik". Diss. Washington, 1976.

25 Istvan Deak, "Weimar Cermany's Left-Wing Intellectuals". Berkley, 1968.

26 Vgl. Jost Hermand, "Unbequeme Literatur". S. 128 f.

27 Die Erklärungen für das Versagen stützten sich meist auf die Schwächen des politischen Systems der Republik. Bei Thomas Eschenbach handelt es sich um "Die improvisierte Demokratie" (München 1963), bei Wilhelm Hoegner geht es um "Die verratene Republik" (München 1979) und bei Wolfgang Ruge ist es eine "kontinuierliche strukturelle Krise", an welcher die "Republik auf Zeit" (Berlin 1969) scheiterte. Die wohl ertragreichste Untersuchung zum Thema des Verfalls der Republik bietet Dietrich Bracher, "Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie" (Villingen, 1960). Vgl. auch Otto Kirchheimer, "Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung" (Frankfurt 1976).

28 Richard Bessel und E.J. Feuchtwanger. "Social Change and Political Developoment in Weimar Germany". London 1981. Vgl. auch die älteren Darstellungen von Ludwig Preller, "Sozialpolitik in der Weimarer Republik". Stuttgart 1949, und Arthur Rosenberg, "Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik". Frankfurt 1961.

29 Klaus Jaeger, u. a., "Der Weg ins Dritte Reich. Deutscher Film und Weimars Ende". Oberhausen 1971. Vgl. auch Siegfried Bahne, "Die KPD und das Ende von Weimar". Das Scheitern einer Politik 1932-1935. Frankfurt, 1976.



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