Frau Dr. Lehmann, die ich sehr schätzte, hat ein trauriges Ende genommen. Sie war eine tapfere Frau, die nur tat, was sie für Recht hielt und was sie vor ihrem Gewissen verantworten konnte. Man munkelte schon lange, daß sie gegen das "Gesetz zum Schutze des keimenden Lebens" handelte, und Aborte nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus sozialen Gründen einleitete. Seit vielen Jahren wurde in Deutschland ein heftiger Kampf darum geführt. Auf der einen Seite standen die bürgerlich-konservativen Kreise, vor allem die Kirchen aller Konfessionen, auf der anderen Seite die Sozialdemokratie und die ihr nahestehenden Parteien. Aber das Gesetz bestand und jeder, der sich aktiv oder passiv dagegen verging, machte sich strafbar. Natürlich war es ein offenes Geheimnis, daß trotzdem ständig bei Reich und Arm Abtreibungen vorgenommen wurden, ich glaube im Jahr schätzungsweise 500 000. Da aber Zuchthausstrafe darauf stand, und der anständige Arzt meist nicht ungesetzlich handeln wollte, so waren besonders die Armen auf gewissenlose Hebammen und Kurpfuscher angewiesen, die oft mit verbrecherischem Leichtsinn handelten, und nur an den Erwerb, nicht an ihr armes Opfer dachten. So gingen viele Frauen und junge Mädchen zu Grunde. Natürlich gab es auch gewissenlose Ärzte genug, die die Notlage armer, weiblicher Wesen ausbeuteten und genau so verbrecherisch mit dem Leben und der Gesundheit ihrer Opfer umgingen.
Da war eine Ärztin wie Frau Dr. Lehmann, die nie aus egoistischen, geldlichen Gründen half, sondern nur auf das Wohl ihrer Patientinnen bedacht war, eine ideale, mutige Helferin. Ich stand ganz auf ihrem Standpunkt. Daß ich anders handelte beruhte darauf, daß ich (meinem Mann) Eli1 vor meiner Niederlassung versprochen hatte, keine ungesetzliche Handlung, wenn auch aus besten Motiven, in der Praxis zu begehen. Ich bin aber in Wort und Schrift, sowohl im Kreis der Akademikerinnen, als auch beim jüdischen Frauenbund in seiner Sommerschule in Bad Dürkheim, für Abschaffung dieses Paragraphen2 eingetreten. Doch davon später. Als Hitler zur Macht kam, war Frau Dr. Lehmann - sie war keine Jüdin - als Sozialistin gefährdet. Sie wurde geholt, und es sollte ihr wegen strafbarer Handlungen der Prozeß gemacht werden. Da hat sie sich das Leben genommen. Ich glaube, daß viele Patientinnen in Dankbarkeit dieser warmherzigen, tapferen Ärztin gedenken.
Die zweite Ärztin stammte wie ich aus Karlsruhe und war schon in meiner Gymnasialzeit Vorbild meiner Bewunderung gewesen. Sie hatte damals in der Schweiz studiert. Sie war als Kinderärztin tätig, sicher tüchtig und beliebt, lebte aber zurückgezogen in einem entfernten Stadtviertel, so daß wir uns beruflich nie, gesellschaftlich nur sehr selten sahen.
So war ich die dritte Ärztin, die sich in München niederließ. Ich kann nicht sagen, daß die Patienten bald herbeiströmten. Aber ich machte manche interessante Erfahrung: Patienten, die zu einer Ärztin kamen, waren in erster Linie berufstätige Frauen der gebildeten Klasse: Lehrerinnen, Sekretärinnen, gehobenere geschäftliche Angestellte. Sie, die zu sich selbst Vertrauen hatten, hatten auch Vertrauen zu der Frau, die sie beraten sollte. Dann kamen Frauen des kleinen Mittelstandes - sie sahen im Mann oft so etwas wie einen Gegner, der auf sie herabsah, der sie nicht ernst nahm. Dann kam die christliche, bürgerliche Frau aus dem Mittelstand, nicht die reiche Frau, und zu allerletzt kam die jüdische Frau; sie fand den Weg zur Ärztin am schwersten. Als ich auf ihren ausdrücklichen Wunsch die Behandlung von Tante Fritzi, Onkel Angelos Frau, übernahm, erzählte er mir immer wieder, wie viele Leute ihn davor warnten, mir die Behandlung anzuvertrauen.
Immerhin, die Praxis wuchs [...]
Einmal, es war der Tag vor Pessach,4 Gäste waren zum Seder geladen, die Köchin lag krank, das Kindermädchen war nicht da. Ich kochte, saß bei den Kindern. Plötzlich ein Anruf: Sofort kommen! Da gab es kein Zaudern. Ich stellte mein ältestes Töchterlein, sie war etwa zehn Jahre alt, an den Herd: "wenn Du siehst, daß es zu sehr kocht, schiebe einfach die Töpfe zur Seite, ich werde alles ordnen wenn ich nach Hause komme. Ich habe es geschafft, aber es hat Kraft gekostet. Und da handelte es sich schließlich nur um ein Essen, das besser oder schlechter werden konnte, in jedem Fall kein großes Unglück. Es gab ganz andere Dinge, die schwerer durchzuhalten waren.
Noch ein Beispiel: Mein ältestes Töchterlein war damals vier Monate alt, sie war nur von mir genährt worden. Ich wurde wegen einer schweren Blutung ins Isartal gerufen. Sieben Abgänge hatte die arme Patientin in den sieben Jahren ihrer Ehe schon durchgemacht. Und nun wieder eine Blutung, wieder eine Hoffnung zerstört. Ich kannte sie, sie war meine Freundin, sie war restlos verzweifelt. Rein ärztlich gesehen gab es bei der Stärke der Blutung nur eines: operative Ausräumung, damit die Blutung aufhörte. Aber ich sah, daß ich alles tun mußte, um die Schwangerschaft zu erhalten. Das ging nur, wenn ich - nachdem ich eine Spritze und alles, was nötig war, gemacht hatte - da blieb und beobachtete. Ich blieb die Nacht draußen und telefonierte nach Hause, um dem Kind - es hatte noch zwei Mahlzeiten zu bekommen - Tee zu geben. Es mußte halt einmal hungern. Es gelang, das Kind zu retten, und nach fünf Monaten kam ein prachtvoller Junge zur Welt. Isalein hat es auch nichts geschadet, aber der Konflikt der Pflichten war hart genug.
Oder ein dritter Fall, der schwerste von allen. Ich stillte mein jüngstes Töchterlein, im vierten Monat. Sie erkrankte als einziges der vier Kinder an Diphterie, die ich wohl mit nach Hause gebracht hatte. Ich hatte gerade einen kleinen Patienten mit leichter Angina behandelt, aber es muß doch eine Diphterie gewesen sein. Die falsche Diagnose hätte meiner Kleinen fast das Leben gekostet. Wenn ich wirklich das Kind durch meine Schuld verloren hätte - ich glaube, ich hätte nie wieder gewagt, ärztlich zu behandeln, ich hätte den Beruf aufgegeben!
Und doch berühren diese Dinge nicht die eigentlichen Probleme; die liegen viel tiefer. Dem Manne ist der Beruf der Hauptinhalt seines Lebens, ihm wird alles andere untergeordnet. Das ganze Haus ist darauf eingestellt, dem Hausherrn die Ruhe und Bequemlichkeit zu geben, damit er ganz ungestört seinem Beruf leben kann.
Ganz anders ist es bei der Frau, die im Augenblick, da sie heiratet, sich nicht mehr ganz und ausschließlich dem Beruf widmen kann. Sie übernimmt mit der Ehe sofort die zweite Aufgabe, ein Haus, ein Heim zu gestalten, und es ist falsch zu glauben, daß eine soche Aufgabe ohne Kräfteeinsatz gelöst werden könne. Die berufstätige Frau muß die große Gabe haben, oder sich dazu erziehen, ihr Berufsleben und ihren Alltag so voneinander zu trennen, daß niemand spürt, daß sie vielleicht körperlich müde oder seelisch bedrückt ist, daß ihre Gedanken noch bei dem schweren Fall weilen, den sie eben behandelt hat. Dabei spreche ich hier von der Frau, die keine Mutterpflichten und einen verständnisvollen Mann hat, der gerne bereit ist, mitzutragen und mitzuarbeiten. Sind aber Kinder da, dann wird der Aufgabenkreis weit größer und schwerer. Aber ein Kind braucht trotz bester Kinderpflegerin seine Mutter und hat auch ein Recht auf sie, und die Mutter will auch das Kind führen und leiten, es beeinflussen, ihm eine Mutter sein. Es braucht unendlich viel Kraft und viel Liebe zum Beruf, immer wieder den Versuch zu machen, allem gerecht zu werden.
Und wenn man ehrlich gegen sich selbst ist, weiß man, daß man nie so viel im Beruf leisten kann, wie man könnte, wenn man alles andere ausschalten würde. Wie oft habe ich halb im Scherz, halb im Ernst zu meinem Mann gesagt: "Hätte ich dich nicht geheiratet, wäre ich eine berühmte Frau geworden!" Und Eli sagte dann wohl scherzend, "dann danke Gott, daß ich dich geheiratet habe. Vielleicht habe ich dich vor der großen Enttäuschung bewahrt, wenn die Berühmtheit ausgeblieben wäre." Das war ein Scherz, aber er enthielt den wahren Kern, daß es mir bewußt war, daß ich hinter dem zurückblieb, was ich mir selbst als Ideal gestellt hatte. Wie gern hätte ich mich operativ ausgebildet, mich ausgebildet für die "schmerzlose" Geburt, die Dr. König damals in Freiburg eingeführt hatte, und für geburtshilfliche Operationen. Ach, es gab tausend Dinge, die ich gerne noch dazugelernt hätte, und für die das Lesen der wissenschaftlichen Zeitschriften nur ein schwacher Behelf war. "Berühmt" hätte ich deswegen nicht werden müssen, das war damit nicht gemeint. Trotzdem hatte auch Eli mit seiner Antwort recht: wäre ich glücklicher gewesen, wenn ich einzig und allein dem Beruf gelebt hätte; verzichtet hätte auf ein volles Frauenleben mit Mann und Kindern? Ganz gewiß nicht! Und das ist und bleibt die große, schwere Frage, die vor jeder Frau steht. Viele habe ich gekannt, die von vornherein auf den Beruf verzichtet haben, und viele, die jahrelang auf die Ehe verzichteten, um dann als reife Frau doch noch Ehe und häusliches Glück zu verlangen - oft zu spät und darum meist ein verfehlter Versuch. Ich hätte nie auf den Beruf und auf mein Glück als Frau und Mutter verzichtet. Aber ich war mir immer bewußt, daß es eine schwere, immer neu zu lernende Kunst ist, beides zu vereinen.
Die Veranstaltung über Beruf und Mutterschaft, die ich erwähnte, fand im Rahmen des "Fraueninteressenvereins" statt. Hier hörte ich auch auf einer großen Tagung über weibliche Erziehungsfragen zum ersten Mal Gertrud Bäumer5 reden. Sie sprach so außerordentlich gut und klar, daß selbst so gute und sachverständige Redner wie Herr Kerschensteiner - der Referent über das Münchner Volksschulwesen - neben ihr verblaßten. Ich war voller Bewunderung für sie, und das, was ich von ihr hörte und von ihr las, hat mir immer wieder bestätigt, daß sie wohl die bedeutendste Frau war, die die deutsche Frauenbewegung in meiner Zeit hervorgebracht hat.
Die politisch orientierte Frauenbewegung war der "Verein für Stimmrecht", dem ich natürlich sofort beitrat, wenn es auch damals, 1905, so aussah, als sollte unsere Arbeit noch jahrzehntelang vergeblich sein. Die Forderung nach politischer Gleichberechtigung mußten wir aber stellen. Natürlich war diese Vereinigung noch sehr unpopulär, zählte nur wenige Mitglieder und hatte viele und heftige Gegner. Dem entsprach aber auch die Art und das Auftreten der Frauen, die an ihrer Spitze standen: Dr. Anita Augspurg und Lydia Heymann, trotz ihrer jüdisch klingenden Namen keine Jüdinnen. Sie kleideten sich, besonders Anita Augspurg, wie der Witzblattyp der emanzipierten Frau. Als ich aber mit ihnen bekannt wurde, habe ich beide sehr schätzen gelernt. Sie waren, das ist zuzugeben, fanatisch in ihrem Auftreten wie in ihren Forderungen. Aber wie konnten Frauen jener Tage, die eine Forderung vertraten, die die Männer unter keinen Umständen bewilligen wollten, und die die Mehrzahl der Frauen noch nicht imstande war, zu verstehen, auch anders sein? Sie hatten nach zwei Seiten zu kämpfen, das ging nur mit fanatischer Leidenschaft. Sie gingen den Weg, den ihre Überzeugung ihnen vorschrieb. Dabei, ich lernte sie auch als Ärztin kennen, waren sie warmherzig, hilfsbereit, voll wahrer Menschenliebe.
Ich glaube, ich habe mit zwei jungen zionistischen6 Studentinnen
begonnen. Ich schickte zur Gründungsversammlung Einladungen an
Verwandte und Bekannte, bei denen ich für meine Person Interesse
erwarten konnte, hielt natürlich eine Rede, in der ich die
Gründe für die Schaffung einer solchen Frauengruppe darlegte
und ihre Ziele auseinandersetzte. Die Eröffnungsversammlung war
über Erwarten gut besucht, aber Mitglieder wurden nur wenige.
Über dreißig bis vierzig Mitglieder haben wir es nie
gebracht! Es waren einige mir befreundete Frauen, einige zionistisch
interessierte junge Mädchen, und einige wirkliche Zionistinnen. Alle
anderen hielten sich fern. "Ja, wenn Sie sich nur entschließen
könnten, das 'national' wegzulassen," sagte mir Frau Rabbiner
Werner, "dann könnten Sie weiteste Kreise bekommen, denn so etwas
fehlt hier." Das wollte ich nun gerade nicht. Später sah ich ein,
daß ich unter einem weniger verfänglichen Namen, viel mehr und
besser hätte zionistisch wirken können.
Unsere Abende, die monatlich zweimal stattfanden, brachten gewöhnlich ein Pressereferat, einen Vortrag über jüdische Geschichte, und den Schluß bildete eine jüdische Novelle, ein Gedicht oder eine kleine Erzählung, oft vom gleichen Autor. Dann wurde von einem der Mitglieder über diesen Dichter oder Schriftsteller gesprochen. Es war recht anregend, und unsere kleine Gruppe hielt tapfer zusammen. Aber eigentlich ruhte die Arbeit der "jüdisch-nationalen Frauengruppe" einzig und allein auf meinen Schultern. Ich hielt die Zeitungsreferate, verteilte die Geschichtsthemen, wählte die schöne Literatur aus und suchte das Material für die Vorträge zusammen. Der Kreis vergrößerte sich nie wesentlich, und als wir im Frühjahr 1907 unsere Palästinafahrt antraten, war niemand da, der meinen Platz hätte ausfüllen können. Die Gruppe "entschlief" sanft, und ich hatte nach meiner Rückkehr keine Lust mehr, sie wieder zu erwecken.
Nicht viel besser erging es dem sogenannten "Kulturverband" in München. Sein voller Titel hieß: "Verein jüdischer Frauen zur Förderung der Kulturarbeit in Palästina". Frau Dr. Leszinski leitete diesen Verein innerhalb Deutschlands. Seine Aufgabe bestand besonders darin, Geld zu sammeln, um in Palästina Schulwerkstätten zu errichten, um Frauen und Mädchen in Heimarbeit auszubilden. [É] Immerhin war der "Kulturverband" der einzige Verein in München, der damals schon dem "Jüdischen Frauenbund" angehörte, als er sich im Jahr 1910 rüstete, auch in Süddeutschland Fuß zu fassen. Zu diesem Zweck veranstaltete er im Frühjahr 1910 seine große Tagung in München.
Der "Jüdische Frauenbund" war im Jahr 1904 nach einer allgemeinen Frauentagung in Wien von Bertha Pappenheim gegründet worden. Sie hatte dort gesehen, daß alle Fragen, die die jüdische Frau betreffen, nur von den jüdischen Frauen selbst behandelt werden können. Es waren vor allem die Fragen des Mädchenhandels, die auf dieser Tagung diskutiert worden waren. Es hatte sich gezeigt, daß unter den Händlern viele Juden waren, und auch unter den verhandelten Mädchen war ein verhältnismäßig großer Teil jüdischer Mädchen. Bertha Pappenheim sah klar, daß das niedrige Niveau besonders der Mädchen aus Polen und Galizien sie zur Beute für den Mädchenhandel werden ließ. In Galizien wuchsen viele jüdische Mädchen ohne jegliche Schulbildung auf, sie erlernten keinerlei Berufe, die ihnen ein Fortkommen im Leben ermöglichen konnten. Es war eine der ersten Aufgaben des neugegründeten "Jüdischen Frauenbundes" auch für alleinreisende jüdische Mädchen einen Bahnhofsdienst einzurichten, wie er längst in allen größeren Städten für evangelische und katholische Mädchen bestand. Jüdische Frauen mit gelben Abzeichen sorgten für Unterkunft und Rat, und wo es Not tat, für Hilfe. Natürlich geschah dies im engen Konnex mit der christlichen Bahnhofshilfe. Die Frauen halfen und vertraten sich gegenseitig.
Aber bald wuchs dieser "Jüdische Frauenbund" weit über seine anfänglichen Aufgaben hinaus. Bertha Pappenheim kam durch die erste Arbeit sehr bald in Berührung nicht nur mit "gefährdeten" Mädchen sondern auch mit sogenannten "gefallenen" Mädchen. Sie war die erste, die den Mut aufbrachte, öffentlich darüber zu sprechen, daß es auch im jüdischen Kreis uneheliche Kinder gab, für die niemand sorgte, die man samt den armen Müttern verkommen ließ. Es ist heute völlig unbegreiflich, daß sich solch ein Sturm der Entrüstung gegen Bertha Pappenheim erheben konnte, die es wagte, von unehelichen jüdischen Kindern, von gefallenen Mädchen und jüdischen Dirnen im Bordell zu schreiben. Man bestritt alles, man nannte alles Übertreibung, man hätte sie am liebsten mundtot gemacht! Aber Bertha Pappenheim war eine unermüdliche Kämpferin für die Sache, die sie als recht und notwendig erkannt hatte. Sie schwieg nicht! Sie scharte die jüdischen Frauen um sich und gründete Ysenburg, ein Heim für gefährdete Mädchen.
Ich habe das Heim in den Zwanziger Jahren besucht, als es schon groß und ausgebaut war. Bertha Pappenheim selbst zeigte mir Haus, Heim und Garten. [É] Ich war im Säuglingsheim, wo die jungen unverheirateten Mütter ihre eigenen Kinder betreuen und lieben lernten! Ich war bei den "Krabbelkindern" und es war rührend zu sehen, wie sie alle voll Glück auf Bertha Pappenheim zukrabbelten, sich an ihren Rock hängten und gar nicht von ihr lassen wollten. Ich war mit ihr bei den Kindern, die im Heim lebten, und bei den großen Mädchen, die vom Heim aus nach Frankfurt hineinfuhren, um die verschiedensten Berufe zu lernen.
2 Paragraph 218 des bürgerlichen Gesetzbuches betraf das
Verbot der Abtreibung in Deutschland.
3 Gemeint ist hier die Stadt New York, wo Straus nach der
Vertreibung aus Nazi-Deutschland Zuflucht fand.
4 Pessach. Das beim ersten Frühlingsvollmond gefeierte Fest
zur Erinnerung an den Auszug der Juden aus Ägypten. Das Pessachfest
beginnt mit dem Sedermahl.
5 Gertrud Bäumer (1873-1954), sozialkritische Schriftstellerin
und Vorkämpferin der Frauenbewegung. Bäumer war Vorsitzende des
"Bundes deutscher Frauenvereine".
6 Zionisten. Mitglieder der 1897 gegründeten "Zionistischen
Vereinigung für Deutschland", die Teil der zionistischen
Weltorganisation war. Der Zionismus propagierte die jüdische
Nationalidee und die Umsiedlung nach Palästina.
Quelle: Rahel Straus. Memoiren. Manuskript MF 83 (1), Leo Baeck
Institut, New York. Vgl. dazu Rahel Straus, Wir lebten in Deutschland.
Erinnerungen einer deutschen Jüdin 1880-1933. Stuttgart 1962.
Ende der Leseprobe aus "Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen
1900-1990. Andreas Lixl-Purcell (Hresg.). Leipzig: Reclam, 1992, 1993,
Seite 49-60.