Meine Kinder flüchteten ohne Gepäck mit ihren Fahrrädern. Bereits 10 Minuten nach ihrer Abfahrt wurden sie zufällig getrennt. Dimitrij, damals 17 Jahre alt, radelte durch die französischen Linien nach Paris und wurde dabei von den französischen Truppen als Held gefeiert und durch Lebensmittel und etwas Geld unterstützt. Beim Vater eines Freundes, einem französischen General, holte er sich Rat. Dimitrij verpflichtete sich unter Fälschung seines Namens und Alters in die Fremdenlegion und wurde zwei Tage später nach Nordafrika geschafft. Er blieb bei der Truppe und flüchtete später zu de Gaulle.2 Nachher beteiligte er sich am italienischen Feldzug und an der Befreiung Frankreichs. Wladimir wurde mit dem Fluchtstrom über die belgische Grenze gerissen und kam nach Verdun. Hier kam er mit vielen anderen geflüchteten Männern, Frauen und Kindern in ein Internierungslager. Eine französische Kommission suchte militärdienstfähige Männer aus und stellte ihnen frei, sich als reguläre Soldaten in die französische Armee zu melden. Er schloß sich an, wurde Frontkämpfer und baute noch an Barrikaden in Lyon. Er beteiligte sich mit dem Heer zu Fuß an der katastrophalen Flucht bis nach Aix-en-Provence in Süd-Frankreich. Er wurde Arbeitssoldat und hatte dabei als Frontkämpfer ein viel besseres Los. Später tauchte er im Maquis 3 unter, kurz bevor die Deutschen geschlagen wurden. Schließlich schloß er sich der regulären französischen Armee an und kam mit ihr nach Stuttgart und anderen Orten in Württemberg.
Wir blieben auf mein Anraten zunächst in Luxemburg, wodurch uns erspart blieb, mit den übrigen Flüchtlingen auf den gefährlichen Landstraßen zu bleiben und dann nach Gurs4 gebracht zu werden. Man ließ uns bis September 1940 in Ruhe, die jüdische Gemeinde wurde genau so wie die Luxemburger von der Wehrmacht mit Lebensmitteln versorgt. Sie hatte scheinbar nur ein Interesse, ihre militärischen Operationen in Ruhe durchzuführen. Dann wurde aber das Land von einem Gauleiter übernommen, es wurde Großdeutschland einverleibt, und damit kehrten wir "heim ins Reich."
Das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde, Rabbiner Dr. Robert Serebrenik war mit den Verhandlungen mit den deutschen Behörden betraut, namentlich mit dem Gauleiter, und hatte sich vor allem um die legale Auswanderung der Juden zu kümmern. Wer ausreisen wollte, mußte entweder gültige Pässe haben oder sich entsprechende Papiere beschaffen; außerdem amerikanische Visen, doch hat Dr. Serebrenik auch selbst Visen, z.B. nach Santo Domingo,5 besorgt. Man mußte viel Geld haben, aber Serebrenik sollte auch die nötigen Mittel durch jüdische Organisationen, vermutlich in Belgien, aufbringen. Man munkelte, daß er sich dabei bereichtert habe. Jedenfalls war man über ihn sehr erbittert, und einmal verprügelten seine Wiener Landsleute ihn gründlich.
Wir gingen täglich zur Gemeinde, wo wir mittags verköstigt wurden. In der ersten Oktoberhälfte 1940 fanden wir unerwartet hier einen Anschlag vor, in dem Serebrenik allen Einheimischen und Flüchtlingen mitteilte, daß alle Juden auf Befehl des Gauleiters binnen drei Tagen das Land zu verlassen hätten. Die Juden waren in drei Kategorien eingeteilt, an deren besonderen Sinn ich mich nicht erinnere; ihnen zufolge waren wir für den ersten von drei Transporten registriert. Wir liefen nach Hause, verschleuderten alle Möbel und den meisten Besitz, kauften uns für das Geld, das wir nicht mitnehmen durften, kleinere Wertgegenstände, nur um etwas zu haben. Schnell wurde das Nötigste gepackt, weil ein Gestapomann für 10 Uhr abends des gleichen Tages angesagt war, um unser Gepäck zu kontrollieren und zu versiegeln. Er kam pünktlich und erwies sich als nett, verzichtete auf die Kontrolle, bat sogar um eine Tasse Tee und ließ sich zum Abendbrot einladen, wobei er sich freundlich mit uns unterhielt. Er fragte: "Wissen Sie, ich renne den genzen Tag zu jüdischen Familien, und überall ist Heulen und Zähneklappern. Warum sind Sie nicht traurig?" "Weil ich mich freue," sagte ich, "ins Ausland zu kommen, und meine Kinder wiederzusehen." Er meinte: "Musiker scheinen doch ein anderes Volk zu sein als Kaufleute."
Am nächsten Morgen Gegenbefehl: Kein Jude verläßt die Stadt. Wir gingen sofort zur Gemeinde und sagten, daß wir keinen Sessel und nicht einmal einen Herd zum Heizen und Kochen hätten. Man tröstete uns, es könne sich jede Stunde wieder ändern, und die Nachbarn gaben uns die Betten zurück. So lebten wir sechs Wochen wie die Zigeuner. Ich wagte die Siegel vom Gepäck zu entfernen, was bei größter Strafe verboten war, und brachte sie später wieder an - es wurde nicht entdeckt. Als endlich am 23. November die Transporte durchgeführt wurden, entschlossen wir uns von den drei zur Auswahl stehenden Ländern - Belgien, besetztes und unbesetztes Frankreich - das letzte zu wählen, weil wir inzwischen von einem heimgekehrten Luxemburger erfahren hatten, daß sich Wladimir in einem Arbeitslager bei Marseille aufhielt. Die Transporte gingen vom Luxemburger Kasernenhof aus und wurden von Luxemburger Offizieren geleitet, die unter deutschem Kommando standen. Wir nahmen einen großen Koffer und unsere drei wertvollen Instrumente Cello, Viola und Geige mit. Der Koffer wurde separat in einem Gepäckwagen untergebracht. Wir stiegen - etwa 25 Leute - in einen kleinen Autobus, und man brachte uns über Metz nach Dijon, wo wir in Rot-Kreuz-Baracken einquartiert und auch verpflegt wurden. Abends kam ein betrunkener Gestapomann, hielt uns eine Rede, daß wir drei Tage hier bleiben müßten, und händigte uns für die Grenzüberschreitung Passierscheine aus, die er selbst als gefälscht bezeichnete. Durch glückliche Zufälle kamen wir ungehindert bis Marseille und entgingen dadurch der Einlieferung nach Gurs oder in ein anderes Lager; denn an der Demarkationslinie wurden die Juden von Deutschen und Franzosen abgefangen und dorthin verschleppt.
Genau so glücklich waren wir zunächst in Marseille, ein Gepäckträger brachte uns direkt in ein Hotel. Drei Tage später mußten wir uns auf der Surete (Fremdenpolizei) melden. Es war nötig, der Surete einen bestimmten hohen Geldbetrag als persönliche Sicherheit nachzuweisen. Ein reicher Jude borgte ihn jedem, und so auch uns, der ihn nicht besaß, und nachher gab man den Betrag ihm wieder zurück. Wie alle Männer wurde auch mein Mann gleich verhaftet und in ein Sammellager auf dem boulevard d'Arras gebracht. Nur dem Umstande, daß er Amerika-Papiere hatte und beide Söhne französische Soldaten waren, verdankte er noch am gleichen Tage die Freilassung. Wir waren mittellos und wandten uns an die jüdische Gemeinde, zumal es keine Arbeitsbewilligungen gab. Glückliche Zufalle fügten es, daß wir unterstützt wurden und sogar drei honorierte Konzerte für die jüdische Gemeinde geben konnten. Trotzdem lebten wir sehr schlecht, woran auch ein ungewöhnlich kalter Winter schuld war. Wir hatten kaum Geld, fast nichts zu essen und keine Heizmöglichkeiten, aber wir waren in Freiheit. Nur einmal wöchentlich bekamen wir ein warmes Essen. Das verdankten wir Wladimir, der für uns in der Küche des Arbeitslagers eine Mahlzeit stahl. Wir bemühten uns dauernd um amerikanische Einreisevisen, doch wurden die Emigranten vom Konsultat skandalös behandelt. Papiere wurden verloren, und schließlich gaben wir unsere aussichtslosen Bemühungen auf. Genauso schlecht waren unsere Erfahrungen mit der HIAS (jüdische Hilfsorganisation). Durch Strickarbeiten, die ich nur unter großer Gefahr mit illegal beschaffter Wolle machen konnte, verdiente ich aber schon bald nach unserer Ankunft gerade so viel, um die Rationen zu bestreiten, während die Unterstützung der jüdischen Gemeinde zur Bezahlung der Zimmermiete reichte.
Von Zeit zu Zeit erschienen bei Nacht Surete-Leute, kontrollierten die Papiere, fragten nach anderen Flüchtlingen und nahmen einen oft zur Polizei mit. Einmal mußten wir trotz gültiger Papiere einem Mann auf die Surete folgen. Dort fanden wir bereits - es war Ende Juni 1941 nach dem Beginn des Krieges mit der Sowjetunion - einige Hundert Menschen vor. Männer und Frauen wurden sofort getrennt, wir wurden auf Camions verladen und befanden uns plötzlich im Hafen, wo wir über eine Strickleiter ein Schiff besteigen mußten. Nun war ich von meinem Mann getrennt. Auf dem Schiff hielt sich eine französische Kommission auf, die meine Frage, wo mein Mann sei, nicht beantwortete und mir sämtliche Papiere abnahm. Man händigte mir eine Decke, ein Essen, und eine Schlafkarte ein. Wiederholte Fragen, wozu? wohin? wurden nur beantwortet mit: "Vous verrez!" (Sie werden es sehen!) Die Aktion richtete sich gegen Russen - mein Mann stammte aus Odessa. Es handelte sich also keineswegs nur um Juden, sondern um Weißrussen usw. Ein paar Stunden später erfuhr ich durch eine Mitgefangene, daß sich die Männer, also auch meiner, auf dem gleichen Schiff befänden. Es wurde uns tags und nachts das Zusammensein erlaubt. Auf dem Schiff waren etwa 2000 Personen. Die Verpflegung war sehr knapp, aber gut. Krankheiten und Todesfälle kamen vor, doch gab es weder einen Arzt noch Hilfe. Am nächsten Tage begann eine sorgfältige Durchkämmung. Wir kamen erst am vierten Tage unter den letzten daran und wurden entlassen.
Wir bezogen wieder unser altes Zimmer, hungerten weiter, bis mein Mann mit den meisten jüdischen Männern im September 1941 in ein Arbeitslager kam. Befreiung war in dem korrupten Frankreich nur durch sehr viel Geld möglich. Ich konnte diesmal meinem Mann nicht helfen. Als einziges konnte ich durchsetzen, daß er ins gleiche Lager wie Wladimir gebracht wurde. Leider erwies sich das als ungünstig, weil es ein sehr hartes Lager war, und mein Sohn konnte den Vater nicht beschützen. Die Arbeit war schwer, die Männer, darunter viele Spanier, mußten Straßen bauen. Als ungewöhnliches Detail sei erwähnt, daß damals Dimitrij ganz unerwartet mit dem Corps de Musique der Fremdenlegion auf der Durchreise nach Vichy, wo das Orchester vor Petain6 spielen sollte, auch nach Marseille kam, so daß ein Wiedersehen gefeiert werden konnte. Es war die letzte Zusammenkunft der ganzen Familie, da auch Wladimir auf Urlaub kam. Wir verbrachten alle eine Nacht in unserem Zimmer.
Ohne Mann konnte ich mich leichter durchbringen, ich hatte mehr Bewegungsfreiheit und weniger Pflichten. In der rue Tyrenne im Hafenviertel war in einem großen aber ziemlich verfallenen Hause eine staatlich subventionierte philantropische Gesellschaft, deren Direktor der Italiener Barucca war. Die Gesellschaft hatte künstlerische Aufgaben und eine Ausspeisung, wo ein elendes Essen für die ärmste Bevölkerung gegen Lebensmittelkarten ganz billig abgegeben wurde. Den Besuchern gesellten sich bald immer mehr Emigranten zu, so daß diese Stelle zu einem jüdischen Nachrichtenzentrum wurde. Ich meldete mich nach Internierung meines Mannes im Orchester an und wurde sofort als Cellistin engagiert. Dafür bekam ich etwas Bargeld und zweimal täglich Mahlzeiten. Jeden Sonnabend und Sonntag spielte ich einige Stunden. Außerdem setzte ich meine Strickarbeiten fort, stellte das aber bald ein, weil es immer gefährlicher wurde, und nahm nun in der Küche dieser Institution auch noch einen Posten an. So war ich als Saucenköchin, Gemüseputzerin und Tellerwäscherin dreimal täglich für 600 Personen tätig. Dafür bekam ich viel besseres Essen als die Gäste, sogenanntes Küchenpersonalessen, sehr wenig Geld, aber man hatte eine gewisse Sicherheit an der Leitung der Gesellschaft, die manchen Emigranten half, und der man sehr gute Beziehungen zur Präfektur nachsagte. Zu den Wochenenden durfte mein Mann, wenn er "artig" war, wie übrigens auch Wladimir, nach Hause kommen, und manchmal besuchte ich meine Leute.
In der Societe Philantropique lernte ich einen Wiener Halbjuden - der Vater war österreichischer Offizier, die Mutter polnische Jüdin - kennen, der links gerichtet war. Er war einer der Männer, die hier in einem Schlafraum lange versteckt gehalten worden sind. Dafür mußte er arbeiten; er war Kellner. Bald freundete er sich mit meinem Mann und mit mir herzlich an und stand mir hilfreich zur Seite. So ging es weiter bis ins Frühjahr 1942, als die großen Departationen nach dem Osten einsetzen. Wladimir kam aus dem Lager Aubagne nach der Dordogne, während mein Mann, damals 53 Jahre alt und dementsprechend für Schwerarbeit ungeeignet, in immer schlechtere kleine Lager kam, wo er in Steinbrüchen arbeiten mußte und elend verpflegt wurde. Oft erhielt er tagelang kein Essen. Die letzten Eindrücke von meinem Mann waren für mich niederschmetternd. Er kam völlig herunter und war fast verhungert.
Als die Deportationen so zunahmen, daß unter den Emigranten eine Panik ausbrach, riet man mir, meinem Mann durch die HIAS einen Urlaub aus dem Arbeitslager zu verschaffen. Wir wollten ihn überreden, aus dem Lager zu fliehen und sich in der Societe Philantropique zu verstecken. Es gelang mir auch, ihn so nach Marseille zu bekommen. Man stellte ihm dort eine Schlafstelle zur Verfügung, doch war er zu einem illegalen Leben nicht zu bewegen. Er hat steif und fest behauptet, daß er ein glänzender Steinbruch-Arbeiter wäre, die Tatsache, daß seine Söhne französische Soldaten seien, würde ihn schützen. Am 11. Mai 1942 erzielte ich für uns drei ein Visum nach Amerika, doch nur für meinen Mann und mich eine französische Ausreisebewilligung. Der amerikanische Konsul weigerte sich, Wladimir aus dem Dossier herauszunehmen und uns allein fahren zu lassen. Als ich ihm die Gefahr vorhielt, in der mein Mann schwebte, meinte der Konsul: "Das interessiert mich nicht!" Das letzte Schiff fuhr ab, und wir blieben zurück.
Niemand war seines Lebens sicher. Es hatte sich herumgesprochen, daß man die Juden nach dem Osten schaffe, dort vergase und aus den Leichnamen Seife herstelle. Mein Mann erklärte das für Ammenmärchen. Er glaubte, daß man ihn wahrscheinlich nach Deutschland bringen würde. "Wenn ich dort arbeite und meine Pflicht erfülle, wird mir nichts geschehen." Mein Mann wünschte, daß auch ich nicht in die Illegalität gehe. Da sagte ich ihm unter dem Einfluß meines Freundes, daß sich unsere Wege trennen würden. Er ging gegen meinen Willen ins Lager zurück mit den Worten: "Ich werde nicht deportiert."
Ich wohnte damals in einem Haus, wo an die 60 Emigranten in Einzelzimmern lebten. Eines Morgens kam die Wirtin aufgeregt und sagte, man habe in der Nacht ohne jede Vorbereitung eine Frau abgeholt. Einige Tage später geschah das einer anderen Frau. Außerdem erfuhren wir, daß deren Männer gleichzeitig aus den Arbeitslagern geschafft und nach Les Milles transportiert wurden, das damals als Durchgangslager diente. Von hier wurde über Drancy der Weg nach dem Osten fortgesetzt. Ich hatte mit meinem Mann verabredet, daß er mich mit einem vereinbarten Text sofort telegraphisch benachrichtigen würde, wenn die Deportation unmittelbar drohe. Mitte August 1942 bekam ich dieses Telegramm, einen Tag nachdem er mich nach seinem letzten Urlaub verlassen hatte. Ich warf sofort alle meine Papiere weg, verließ mein Quartier und mußte sehen, wie ich jede Nacht wo anders schlafen konnte, denn in der Societe Philantropique wollte ich mich aus privaten Gründen nicht lange verstecken und brachte dort nur ein oder zwei Nächte zu, zumal man Frauen dort ablehnte.
Inzwischen erhielt ich regelmäßig Nachricht von meinem Mann, daß alles nicht so schlimm wäre, denn er wurde von einem Lager ins andere verschleppt und dabei im Glauben bestärkt, daß er nur in ein weiteres Arbeitslager komme, ihm aber keine Deportation drohe. Da er also nicht in Les Milles war, hielt man mich in der Societe Philantropique - und das war auch die Ansicht meines Freundes - nicht für unmittelbar bedroht; weswegen sich auch niemand so recht um mich kümmerte, während ich selbst pessimistisch war und mich nicht beeinflussen ließ. Einige Tage später erfuhr ich dann auch, daß mein Mann bereits in Les Milles war. Etwa zwei Tage darauf schrieb er selbst von dort in beruhigender Weise. Er war dem Gerücht und der Selbsttäuschung erlegen, daß mit seinen Amerika-Papieren und wegen seiner Söhne nichts Ernstes zu befürchten sei. Mein letzter Rettunsversuch scheiterte. Er bestand darin, einen in Les Milles tätigen Pastor sowie eine Dame zu verständigen, die dort offiziell und gleichzeitig illegal arbeiteten und wirklich eine Anzahl von Leuten retteten. Ein spanischer Koch, der in Les Milles tätig war und zufällig meinen Mann kannte, war in Marseille auf Urlaub und übernahm meinen Brief an den Pastor und die Dame zur persönlichen Übergabe. Der Brief kam zu spät, mein Mann war nicht mehr in der Baracke, sondern unerwartet knapp zuvor mit einem Camion nach Drancy abgeschoben worden. Tags darauf erhielt ich seinen Abschiedsbrief. Ein weiterer, allerletzter Brief folgte, den er aus dem fahrenden Zuge geworfen hatte. Erst nach dem Kriege gewann ich durch eine amtliche Bestätigung die Sicherheit, daß er fünf Tage in Drancy war und am 7. September 1942 nach dem Osten verschleppt wurde.
Nach der letzten Nachricht meines Mannes nahm ich einige Stunden Urlaub in der Küche, ging zum jüdischen Komitee und bekam nochmals Geld für eine Woche. Nachher habe ich nie mehr das Gebäude betreten, weil es stets von Gestapo umstellt war, und vermied aus gleichem Grunde das amerikanische Konsultat. Doch arbeitete ich in der Küche weiter und wohnte nun mit meinem Freund zusammen bei einer 90-jährigen italienischen blinden Verbrecherin, deren sämtliche Kinder im Zuchthaus waren. Das Quartier war im ärgsten, jetzt abgebrochenen, Hafenviertel und hatte drei Vorteile: Wir konnten unangemeldet bleiben, doch dafür hatte ich mich zur Ernährung der Blinden verpflichtet. Es gab eine Fluchtmöglichkeit über Dächer und ein sorgfältig angelegtes Versteck im Gebälk, das mein Freund wochenlang vorher ausgebaut hatte. Lebensmittel, Matratzen und alles Nötige für einen mehrtägigen Aufenthalt waren dort vorbereitet. Ich selbst hatte keinen Ausweis mehr, mein Freund hingegen eine echte eingetragene französische Identitätskarte, wegen seines schlechten Akzents als Elsässer und auf falschen Namen.
Wir hatten keine Lebensmittelkarten. Mein Freund vermied die Straßen, und ich hatte die schwere Aufgabe, täglich für ihn und die Greisin in der Küche Essen zu stehlen. Auch Lebensmittelkarten besorgte ich uns beiden unter höchster Lebensgefahr durch einen Trick: ich ging mit gänzlich falschen Lebensmittelstammkarten einmal monatlich zu den betreffenden Ausgabestellen in Schulen und erhielt die für den Zeitabschnitt gültigen Scheine. Das tat ich vom November 1942 bis Januar 1943. Einmal wurde ich beinahe geschnappt. Ich benützte stets die Identitätskarte der Blinden und zeigte nur die Rückseite der fingierten Stammkarte vor. Der Beamte drehte sie um, hinter mir stand ein Polizist, und während der Beamte den Schwindel durchschaute, folgte er einem guten Impuls, reichte mir die Karte zurück und wies seine Hilfskräfte an, mir die einzelnen Abschnitte auszufolgen. Ich war wie erschlagen, nochmals wollte und konnte ich diesen Gang nicht mehr wagen.
Beim Einkauf trat ich immer als femme de menage in Küchenschürze und mit einem Geschirr in der Hand auf. Sah ich dabei zufällig zwei oder drei Männer zusammen gehen, so flüchtete ich vorsichtshalber sofort in ein Haustor, um nicht Gefahr zu laufen, angehalten und nach Papieren gefragt zu werden. Mein Freund hatte mir beigebracht, beim Gehen auf der Straße, Ecken stets in einem weiten Bogen zu nehmen, um notfalls noch ausweichen zu können. Hatte ich einen weiten Weg und mußte die Straßenbahn benützen, so beredete ich die Alte, das Bett zu verlassen, und schleppte sie als unschuldige Begleiterin - la niece - auf den Straßen und in die Trambahn; und überall machte man uns Platz, half uns, und selbst die Polizei war dann entgegenkommend. Oft versuchte die Greisin, mich zu dem einträglichen Beruf einer Taschendiebin zu bekehren: "Pourquoi travaillez-vous si dure?" (Warum arbeiten Sie so schwer?)
Am 20. Januar 1943 wurde, was ich nicht, mein Freund aber wohl vorausgesehen hatte, die Stadt plötzlich von 5000 Mann Garde mobile aus Paris, untermischt mit Gestapo, besetzt. Alle öffentlichen Gebäude wurden als Quartiere beschlagnahmt, der Bahnhof besetzt. Kein Mensch konnte entweichen, der Autobusverkehr wurde eingestellt. Motorräder rasten durch die Stadt, die Bevölkerung lebte in einer ungeheuren Aufregung. Am nächsten Morgen bestätigten sich alle Gerüchte, die tags zuvor verbreitet worden waren: kein Haus, kein Zimmer, kein Dachgiebel, kein Kellerloch, kein Verschlag sollten bei dieser Aktion undurchsucht bleiben. Es sollte drei Tage dauern. Man erzählte, daß unter deutscher Anleitung und mit deren Ordnung und Systematik gearbeitet werden sollte. Und so geschah es. Wir suchten unser vorbereitetes Versteck im Gebälk auf. Mein Freund richtete im Zimmer vorher alles so, um den Eindruck zu erzielen, daß zwar außer der Alten hier Leute gelebt hätten, die aber verreist wären. Die Blinde zeigte sich verständnisvoll: "Sie werden mich nicht lehren, wie man mit der Polizei umzugehen hat, ich habe hier einen Schwerverbrecher 12 Jahre versteckt." Schweren Herzens stiegen wir hinauf und blieben in einem Zustand äußerster Nervenanspannung drei Tage und Nächte oben. Wunderbarerweise wurde unser Haus aber vergessen.
Nach der Aktion verließen wir unser Versteck, und ich erklärte meinem Freunde, daß ich keinen Tag länger in Marseille bleiben würde. Ich überredete ihn, mit mir in ein Dorf in die Berge zu fliehen, wo man notfalls schnell die Flucht antreten könnte. Nach einigem Widerstand, der vor allem wegen unserer Existenzmöglichkeiten vorgebracht wurde, gab er nach. Mein Freund als Photograph sollte photographieren, ich wollte stricken, und damit würden wir uns durchschlagen. Die größte Schwierigkeit bestand in der Abreise, da der Bahnhof noch immer gesperrt war. Es blieb nur der Autobusverkehr übrig, und da war es fast unmöglich, einen Platz zu bekommen. Außerdem konnte man es nicht wagen, ohne Papiere zu fahren. Durch einen glücklichen Zufall erwarben wir für mich im Austauschwege gegen ein Paar Schuhe meines Mannes die Identitätskarte einer eben verstorbenen Emigrantin. Doch setzte mich die Karte allen Gefahren aus, weil sie nicht "registriert" war und mit einem mir höchst unähnlichen Bild versehen war. Es gelang mir, zwei Autobusplätze nach Gap, Richtung Grenoble, zu kaufen. Größeres Gepäck ließen wir bei der Blinden. Wir nahmen nur das nötigste Handgepäck, zwei große Kisten mit photographischen Geräten und meine drei Instrumente mit. Von meinem Sohn in Afrika war ich schon wochenlang durch die amerikanische Besetzung abgeschnitten, hingegen benachrichtigte ich Wladimir in der Dordogne von meiner Flucht.
Während der Reise kannten wir, mein Freund und ich, einander nicht, um uns nicht gegenseitig zu gefährden. Wie durch ein Wunder hatten wir bis Gap keine Kontrolle. Hier angekommen, erkundigten wir uns bei dem inzwischen aus Marseille herübergesiedelten jüdischen Komitee, ob es klug wäre, sich im Orte niederzulassen. Man sagte, es wäre das Dümmste, was wir tun könnten, und riet uns, sofort nach Grenoble weiterzufahren. Der Rat war gut - einige Wochen später wurde das ganze Komitee nach dem Osten deportiert. Zwei Tage nach unserer Abreise aus Marseille erfuhren wir auch, daß man, wohl infolge einer Denunziation, uns aus unserem Zimmer bei der Blinden abholen wollte. Der Camion stand bereits vor dem Haustor.
Wir fuhren mit der Bahn nach Grenoble. Das Departement Isere stand unter italienischer Oberhoheit. Trotzdem riet uns das dortige jüdische Komitee, das uns auch mit etwas Geld versah, möglichst nicht in Grenoble zu bleiben, sondern einen abgelegenen Ort in den Bergen aufzusuchen. Der Komiteeleiter, ein Dr. Bloede aus Hamburg, gab mir die doppelte Unterstützung, weil ich ihm sagte, daß ich sie zwar brauche, ihn gleichzeitig aber um Arbeit, Strickaufträge, bat. Das sei ihm noch nicht vorgekommen, meinte er, und darum kümmerte er sich besonders rührend um mich. Als die Deutschen Grenoble besetzten, wurde dieser vornehme alte Herr erschossen. Wir fuhren nach Uriarge-les-Bains bei Grenoble, wo sich in den leeren Logierhäusern viele Emigranten versteckt hielten. Wir kamen mittags an und gingen auf gut Glück zu einem Kaufmann und fragten, ob er uns ein Zimmer empfehlen könne. Er war mißtrauisch und versuchte uns abzuschrecken, indem er behauptete, nur unheizbare Zimmer zu haben. Wir erklärten, das störe uns nicht. Er sagte, er wolle es bedenken, wir sollten in zwei Stunden wiederkommen. Wir verließen ihn und gingen einen gepflegten Waldweg bergauf, und da beschloß ich weiterzulaufen und nicht mehr zurückzukehren.
Nach einer halben Stunden erreichten wir ein Dorf, das erste Haus war ein Hotel de Tourist. Wir gingen in die Bauernküche zur Inhaberin, die ich um zwei Zimmer bat. Sie wollte nicht, doch ließ ich mich nicht abweisen, legte Geld hin, worauf sie für zwei bis drei Nächte einwilligte. Als wir nach Monaten sehr befreundet waren, gestand sie mir, fest entschlossen gewesen zu sein, uns nicht aufzunehmen, aber die Art, wir ich das Geld hingelegt hätte, habe ihr jede Abwehr unmöglich gemacht. Schon wegen der Lebensmittelkarten mußten wir uns selbstverständlich anmelden, was ohne Abmeldung in einem anderen Ort unmöglich war. Der Bürgermeister und sein Sekretär, ein Dorfschullehrer verzichteten großzügig auf den Nachweis einer Abmeldung und stellten uns den nötigen Ausweis ohne weitere Unterlagen als unsere Identitätskarten aus. Wir hatten erfahren, daß diese beiden Männer bereits anderen Juden geholfen hatten. Von Reichen nahmen sie Geld, von Armen nicht.
Wir hatten nur das wenige Geld vom Komitee, traten aber als sehr reich auf. Um nicht den Anschein zu erwecken, daß wir versteckte Juden waren, redeten wir den Leuten ein, ich sei meinem Mann davongelaufen, um mit meinem Geliebten zu leben, dessen Lungenkrankheit aber einen Aufenthalt in den Bergen erfordere. Zu essen hatten wir fast nichts, was die Frau, da wir ja nicht kochten, auch bald merkte, und wir erklärten, das sei unsere Diät. Da wir nicht dauernd hungern konnten, mußten wir uns irgendwie helfen. Die Schwarzhandelspreise konnten wir nicht bezahlen. Ich fing an, angeblich aus Langweile, für die Bäuerin zu stricken, und mein Freund photographierte die Leute. Dafür nahmen wir kein Geld, weil wir doch so "reich" waren. Die Bauern wollten sich nichts schenken lassen, und so erlaubten wir ihnen herablassend, uns gelegentlich ein paar Kartoffeln oder Nußöl, Milch und Käse zu geben. Keiner hielt uns für Juden, bald fing man an, uns sehr zu lieben, und wir gehörten mit zur Dorfbewohnerschaft. Mein Freund erwarb sich durch allerlei Maschinenreparaturen, ich weiterhin durch Stricken Zuneigung. Trotzdem wollte uns die Bäuerin nach einem Monat nicht länger behalten. Sie setzte uns aber nicht auf die Straße, sondern verschaffte uns ein Quartier in einem verfallenen Bauerhaus bei einem Neunzigjährigen. Auch das war unser Glück. Der Mann war so alt und außerdem fast taub, so daß er gar nicht wußte, was versteckte Juden seien. Er gab uns ein großes Zimmer oberhalb dem seinigen, es stand fast leer. Die Miete war ganz gering, hingegen verlangte er, wie vorher die Greisin, von mir versorgt zu werden.
Nun lebten wir ungestört bis zur deutschen Besetzung im Herbst 1943. Da wurden die Verhältnisse wieder schwierig, und wir konnten nur mit Vorsicht das Haus verlassen. Mein Freund blieb 8 Monate nur im Dorf oder in der Umgebung. Er hatte inzwischen Anschluß an die Rsistance7 gefunden, für die er photographisch arbeitete. Ich nahm die Gefahr auf mich, die nötigsten Wege zu gehen. Ich fuhr nie bis Grenoble, wenn ich in die Stadt mußte, sondern stieg im letzten Dorfe aus, um Kontrollen auszuweichen, und lief in die Stadt. Einmal geriet ich aber trotzdem in eine furchtbare Razzia, die zum Glück nur von der Wehrmacht vorgenommen wurde. Achtmal mußte ich meine falsche Karte zeigen. Nun wollte ich sie nicht mehr benützen. Mein Freund fand das verständlich, stellte in der gleichen Nacht von mir Paßbilder her, und wir beschlossen, am nächsten Tag zum Bürgermeister zu gehen, um für mich einen richtigen Ausweis zu erbitten, den ich brauche, da ein Kind meine alte Karte zerrissen habe. Als ich dem Bürgermeister meine Geschichte erzählte, fragte er, warum ich so unvorsichtig gewesen sei, meine Karte herumliegen zu lassen. Er tat ziemlich erzürnt und verlangte einen Geburtsschein. Ich hatte sofort das Gefühl, daß sein Zorn nur fingiert war. Als ich sagte, ich habe keinen solchen Schein, nahm er mich bei der Hand und führte mich wortlos zu seinem Sekretär hinauf. Er trug ihm auf, mir eine Identitätskarte auszustellen, die endlich ordentlich registriert war und mein eigenes Bild aufwies. Ich war hoch erfreut, aber meine Freude wurde sofort durch eine schreckliche Nachricht des Lehrers gedämpft, er müsse mir leider mitteilen, daß ich seit gestern von der Gendarmerie gesucht würde. Wir waren fassunglos und wußten vor allem nicht, weswegen man mich suchte. Ein Grund konnte sein, daß ich mehrmals in einem Hotel mit falschen Angaben übernachtet hatte; oder war man mir auf eine Geschichte mit Lebensmittelkarten gekommen, die ich mir illegal zu unseren übrigen Karten in Grenoble verschafft hatte. Schließlich kam auch eine Denunziation in Frage. Nur ich wurde gesucht, nicht mein Freund. Wir gingen heim und beschlossen, die Dinge an uns herankommen zu lassen. Die Gendarmerie kam nicht.
Zwei Tage später, am 4. Februar 1944, ging ich an einem eisigen Morgen nach Uriarge-les-Gains, wo wir immer Brot kauften. Knapp vor dem Dorfe standen bewaffnete deutsche Soldaten. Das wunderte mich wohl, doch dachte ich, so dumm war ich, das wird ein Manöver sein, ich will schnell ins Dorf gehen. Zehn Schritte weiter wieder bewaffnete Soldaten. Ich ging wieder an ihnen vorbei - in die Falle. Der Bäcker war am Anfang des Dorfes. Ich betrat den Laden. Der Bäcker sah mich entsetzt an: "Was machen Sie hier? Warum sind Sie nicht in Ihrem Dorf geblieben? Wissen Sie nicht, was los ist?" Ich sagte, nein, und er berichtete mir, daß seit 5 Uhr früh die schwerste Gestapo-Razzia im Gange sei, die je hier stattgefunden habe. Nur einige Menschen am anderen Dorfende, durch Telephonanrufe gewarnt, konnten sich retten. Alle anderen seien gefangen. 2000 Menschen, nicht nur Juden, wären im Hotel du Midi bereits eingesperrt. Sie hätten auch eine Kundin des Bäckers, eine Mutter von vier kleinen Kindern erwischt und fürchterlich geschlagen und gequält, weil sie die versteckten Kinder und ihren Mann nicht preisgeben wollte. Ich gab jede Hoffnung auf, aus dem umstellten Dorfe zu entkommen, trat aber trotzdem mit meinem Brot in der Hand den Rückweg an und begegnete zwei Minuten später drei Männern in Lederjacken, die mich scharf fixierten. Ich war nicht gerade schmuck hergerichtet und tat so, als wollte ich sagen, na, mit mir verlohnt es sich doch nicht anzubandeln. Die Männer - es waren, wie ich nachher erfuhr, die drei für die Aktion verantwortlichen Gestapoleute - ließen mich laufen. Die Soldaten fragten mich dann: "Franzos?" Ich sagte: "Messieurs, je suis Francaise." Und so kam ich durch die Sperren durch.
Am 11. Februar besuchten wir eine befreundete jüdische Dame in einem weitabgelegenen Ort. Zwei Stunden, nachdem wir sie verließen, wurde sie mit ihrer Familie von der Gestapo gefangen. Nur ein 17-jähriger Sohn und ein 30-jähriger Neffe konnten sich durch einen Sprung von einem vereisten Dache auf ein anderes retten. In unserem Dorfe lebten nur noch zwei andere jüdische Familien, die sich mit viel Takt zurückhielten. Wenn uns ab und zu Alarmsignale erreichten, daß auch unser Dorf von Gestapo durchsucht werden solle, flüchteten wir in eine von uns vorgesehene Hütte, 1000 Meter hoch in den Bergen, wo wir in einem Backtrog schliefen. Die Zustände wurden immer schwieriger, Brot gab es wochenlang nicht mehr. Weit vom Haus weg konnte man sich nicht wagen, und ich mußte ein kostbares Instrument verschleudern, um etwas Geld zu beschaffen. Zwar wartete man schon seit zwei Jahren mit größter Ungeduld auf die Befreiung durch die Westmächte, wurde aber immer wieder enttäuscht. Die Zeit, die dem 6. Juni 1944 voranging und folgte, brachte das letzte und ärgste Toben der Deutschen. Damals versteckten wir auch noch eine befreundete jüdische Schriftstellerin bei uns.
Die beiden Männer wollten für die letzten Gefahren einen Unterstand bauen und machten sich an die Arbeit. Sie mußten sehr vorsichtig sein, denn niemand durfte davon wissen, nicht einmal unsere Nachbarin. Es wurde nur nachts gearbeitet. Unter unserem Hause fing der Unterstand an und setzte sich ins freie Feld fort. Am schwierigsten war es, unbemerkt zu schaufeln und die Erdmassen wegzuschaffen. Deshalb mußte ich jeden Abend drei bis vier Stunden Klavier üben, ob ich wollte oder nicht - wir hatten uns einige Monate zuvor ein Klavier ausgeborgt. Der Bau des Unterstandes begann im April.
Ich muß nun ergänzen, daß der Fall mit der Gendarmerie doch nicht beendet war, wenn man mich auch nicht holte. Etwa um die Wende Februar März erhielt ich eine Zuschrift des Bureau de Statistique aus Lyon, worin man mitteilte, es sei entdeckt worden, daß ich einen falschen Etat Civil angegeben habe und melden müsse, wer ich wirklich sei, oder binnen acht Tagen zu erscheinen habe. Auf Anraten von Freunden ging ich zu einer französischen Anwältin in Grenoble, die in solchen Fällen hilfsbereit war. Nachdem sie meinen Fall sorgfältig ausgekundschaftet hatte, teilte sie mir nach zwei Tagen mit, sie sehe keinen anderen Ausweg für mich, als das Haus ohne meinen Freund sofort zu verlassen und mich zu verstecken. Mit dieser Nachricht kehrte ich heim und war auch schon bereit, das Opfer zu bringen. Mein Freund wollte nichts davon wissen und sagte, daß er wohl mitschuldig sei, weil er mich zu der Geschichte mit den Lebensmitteln angestiftet habe; entweder kamen wir beide um oder würden beide gerettet. Sofort ergriff er kluge Vorsichtsmaßnahmen. Unter einem Fenster, aus dem man leicht springen konnte, legte er ein Erdloch an, das gut kaschiert wurde. Dies war übrigens der Anfang der Unterstandes. Vier Wochen lang mußte ich an einem anderen Fenster mit gutem Ausblick beobachten, ob Ortsfremde sich näherten. Ferner ging er zum Bürgermeister und meldete mich dort ab, da ich vier Wochen lang auf einer Konzertreise sei. Dasselbe erzählte er im Dorfe. So war ich für vier Wochen ans Haus gefesselt. Kamen photographische Kunden, so wurde ich in einen Schrank gesperrt. So verging die Zeit bis zur Invasion.
Ich traute mich wieder hinaus und nahm sogar eine Stelle als Hilfskraft in einer Fremdenpension an. Die Rsistance hatte mir inzwischen einen slowakischen Ausweis besorgt. Mit Wladimir hatte ich bis Mai 1944 Briefwechsel, dann nicht mehr, da er untergetaucht war. Im August erreichten die Amerikaner Grenoble, und bald darauf hatte ich die große Freude, beide Kinder wiederzusehen, da sie zu mir auf Urlaub fahren durften.