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Margot Friedrich
Tagebuch der Revolution
1989
Zum Autor: Margot Friedrich arbeitete als Journalistin und Schriftstellerin in der DDR. Sie engagierte sich schon lange vor 1989, dem Jahr der großen politischen Wende, für politische und soziale Reformen. Friedrich war Mitbegründerin der Reformgruppe "Demokratischer Aufbruch" in Eisenach, der alten Lutherstadt im heutigen Bundesland Thüringen, und kämpfte mit anderen DDR-Dissidenten um mehr Freiheit und einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht.
Zum Text: Margot Friedrichs Tagebuch der Revolution wurde in den letzten Monaten des Jahres 1989 in Eisenach geschrieben. Die dramatischen politischen Ereignisse - Demonstrationen, Öffnung der Mauer, Fall der Regierung - wurden von Friedrich in Stichworten aufgeschrieben. Friedrich bemerkte dazu: "Ich finde nur die Zeit zu kurzen täglichen Notizen, damit ich die Übersicht nicht verliere." Aus diesen Notizen konstruierte sie später dieses Tagebuch.
Margot Friedrich, Tagebuch der Revolution
Eisenach, Dienstag, 10. Oktober 1989.
Informationsabend in der Paul-Gerhard-Kirche. Rund 300 Menschen, vor der Kirche vielleicht 200. Es regnet und ist kalt. Wir informieren, so gut wir können, über die Initiativen, die das Land durcheinanderbringen. Die Stimmung ist aufgeregt.
Es ist bekannt geworden, daß die Polizei brutal war. Auch bei uns waren die Kirchen geöffnet, als Zuflucht. Die Menschen sind hungrig nach Informationen. Und nach Veränderung.
Ich fühle mich schlecht, habe Angst, dann reißt die Stimmung mich mit. Sind wir das Volk?
Donnerstag, 12. Oktober 1989
Wir sitzen in der Kantine und Brigitte erzählt von ihren Dresdner Erlebnissen. Sie sind mit der Polizei zusammengeraten, es gab Schläge und Drohungen. Brigitte ist wütend und auch irgendwie ängstlich. Aber das sind wir alle. Anruf von Fränze. Sie erzählt mit Angespanntheit (so kenne ich sie gar nicht) von der bedrohlichen Demonstration in Leipzig. 120.000 Menschen, sagt sie, Schießbefehl. Dann Entwarnung. Die Kampfgruppen halten sich zurück. Kurt Masur hat eingegriffen É
Den ganzen Tag Nachrichten hören. Es ist unglaublich spannend. Die Ausreisewelle hält an. Sie wird vieles, wenn nicht alles bewirken. Aber alles? Ist das eine Revolution? Das bringen wir nicht fertig.
Donnerstag, 19. Oktober 1989
Was sind das für Tage. Angefüllt mit Hektik und Arbeit. Wir versuchen, ein Land umzukrempeln, eine Ideologie anzufragen, die 40 Jahre geherrscht hat. Das wird noch lange dauern.
Samstag, 21. Oktober 1989
Wir lesen stundenlang Zeitung und sehen fern. Was am Morgen passiert, ist am Abend schon überholt. Mir geht das alles zu schnell. Keine Zeit zum Nachdenken. Heimfahrt von Creuzburg mit einem Professor aus Erfurt. Er sagt, daß er seine Studenten zur Zurückhaltung auffordert und begründet es mit dem Selbstmord seines Sohnes, den die Stasi kaputtgemacht hat. Mondschein. Die Wartburg sieht sehr fremd aus an diesem Abend.
Montag, 23. Oktober 1989
Erstes Friedensgebet - unglaubliche Menschenmassen. In der Kirche und vor der Kirche. Schätzung 5.000. Ein intensiver Gebetsteil. Aufruf zur Gewaltfreiheit. Dann der Informationsteil. Große Angst bei den Ansagen. Das Mikrophon funktioniert schlecht. Es ist schon komisch: wir machen hier so eine Art Revolution nach siebzehn Uhr. Die Leute gehen arbeiten, dann zum Friedensgebet, dann der Einstieg in die Politik. Eine Revolution nach Feierabend. Wir sind und bleiben halt ordentliche Leute. Aber die Menschen reden immer freier.É Keine Angst mehr, kein Ducken oder Verstecken.
Sonntag, 5. November 1989
Demokratie lernen! Wir saßen uns im Rathaus gegenüber. 24 Leute. Die einen wollen die Macht behalten (und sie werden alles dafür tun), wir wollen sie ihnen abnehmen. Die alten Phrasen, die bekannte Arroganz. É Anschließend an das Gespräch: Reden, reden. Fragen beantworten. Nur ein Thema: Revolution in der DDR.
Donnerstag, 9. November 1989
Ich glaube, ich habe einen leichten Schwips. Seit Tagen kommen
Freunde mit Sekt, um mit uns zu feiern. Ich hörte die Nachricht
zusammen mit Fränze und zwei Leuten von der gerade in Eisenach
gegründeten SPD. Sie wollten Kontakt aufnehmen. Aber Fernsehen
war so wichtig, daß wir trotz des Besuches die Nachrichten
sahen. É Überall dieselbe Meldung: DIE GRENZE IST AUF! Ich
schrie es den Frauen zu, die in die Gruppe kamen.
Ich spürte eine ungeheure Erleichterung. Fränze kann jetzt
ihren Bruder im Westen sehen. Wir lagen uns in den Armen. Nein,
dieser Tränen schämten wir uns nicht.
Am Predigerkloster kommt uns ein Auto in scharfem Tempo entgegen,
bremst, und eine heisere junge Männerstimme brüllt:
"FREIHEIT!" Ich bekomme Gänsehaut.
Donnerstag, 23. November 1989
Immer wieder Hunderttausende auf den Straßen überall in der DDR. Das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei schlägt Gespräche am Runden Tisch vor. Das ist zum Lachen oder zum Weinen. Es ist aus mit denen, aus. Der Paragraph eins der Verfassung muß gestrichen werden - führende Rolle der Partei. In Leipzig wird die Wiedervereinigung gefordert. "Wir sind ein Volk" rufen die Massen.
Sonntag, 31. Dezember, Silvester 1989
Wir waren auf dem Karlsplatz. Ganz Eisenach schien auf den Beinen
zu sein. Fernsehen, Lärm, Freude, Überschwang.
Sonja lachte und weinte durcheinander.É Was für ein
Jahreswechsel. Wieviele Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume.
Fremde Leute fielen einander um den Hals. Viele Bundis sind da.
Ich stand auf den Stufen des Lutherdenkmals und sah mich um. Und
plötzlich das Gefühl, das ist etwas Einmaliges im Leben.
Nicht wiederholbar. Um Mitternacht läuteten die Glocken, ein
ungeheurer Jubel brach los.
Quelle: Margot Friedrich, Tagebuch einer Revolution. In Wir in Europa, Nr. 16, Oktober 1992, S. 38-41. Zitiert aus Rückblick. Texte und Bilder nach 1945. Hrsg. von Andreas Lixl-Purcell. Boston: Houghton Mifflin Company, 1995.
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