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Miriam Bloch-Wresinski

Erinnerungen

Berlin 1933

 

Zur Dichterin: Miriam Bloch-Wresinski war 27 Jahre alt, als sie in Berlin als Sozialarbeiterin den Aufstieg der Nazis miterlebte. Wegen der antisemitischen Politik der Hitler-Partei entschloß sie sich zur Emigration aus Deutschland. Bloch-Wresinski überlebte den Krieg in einem zionistsichen Kibbuz.

Zum Text: Miriam begann 1933 ein Tagebuch zu schreiben, in dem sie ihre Erfahrungen in Hitlers Deutschland, ihre Vorbereitung auf die Ausreise oder Alijah , und die Ankunft in Palästina, heute Israel, beschrieb. Hier erinnert sie sich an einen wichtigen Tag in Berlin Anfang 1933.


Miriam Bloch-Wresinski, Berlin 1933

 

Ich ging zur Stadtbahn, die mich nach Hause führen sollte. Die Menschen eilten und drängten aneinander vorbei, und ich, in meinem grauen Regenmantel mit dem runden Filzhut auf dem Kopf, war bald eine von den vielen in diesem Ameisenhaufen, die so schnell wie möglich vorwärtskommen wollten und sich die Treppen zur Stadtbahn hinaufzwängten.

Ach, auf dem Bahnsteig war es fast noch voller, denn die Züge liefen zu beiden Seiten ein, und das Gedränge schien zum Erdrücken beängstigend. Wenn doch nur der nächste Zug in meine Richtung käme!

Da, plötzlich, aus der Mitte der wartenden Menge glaubte ich, meinen Namen zu hören. Ich wende meinen Kopf, ja, eine erhobene Hand winkt mir. Sie gehört der hochgewachsenen, etwas hageren Gestalt meines guten langjährigen Jugendgefährten Alfred Bloch. Sein Kopf mit der braunen Haartolle über der geraden Stirn, seine großen guten grauen Augen haben mich in der Menge entdeckt. Er ist bemüht, sich zu mir hindurchzuzwängen. Es gelingt. Ohne viele Worte zieht er ein Papier aus der Manteltasche und reicht es mir. "Lies!" sagte er kurz und ohne Kommentar. Ich lese: "Entlassungs-Urkunde. Wir teilen Ihnen hierdurch mit, daß Sie vom heutigen Tage an, wegen nicht-arischer Abstammung aus Ihrer Stellung in unserem Betriebe entlassen sind. É"

Ich schaue ihn an. Er erwidert meinen Blick ernst, sehr ernst und betrübt, noch immer ohne ein weiteres Wort. Schließlich frage ich: "Was wirst du nun tun?" "Ich," sagte er, "ich werde zum Palästina-Amt gehen und mich als Pionier zum Aufbau von Palästina melden." "Zum Aufbau von Palästina?" wiederhole ich. "Was willst du denn dort machen?" Verständlicherweise bin nun auch ich zutiefst erregt und überrascht. "Ich werde mich vorerst zur landwirtschaftlichen Vorbereitung schicken lassen, um auf dem Lande arbeiten zu können", antwortete er einfach.

"Nach Palästina," wiederhole ich noch einmal und dann spontan "das steht doch unter englischer Herrschaft, soviel ich weiß, und dort leben Araber." "Ja, du hast recht," sagt Alfred, "doch das Land ist Wüste und wird von den dort lebenden Beduinen und ihren Herden abgegrast. Wir werden versuchen, mit unserer Hände Arbeit ein fruchtbares Land daraus zu machen, und dann wird es auch der armen arabischen Bevölkerung besser gehen É" In diesem Moment braust mein Zug heran. "Steig ein, Margot, wir sehen uns bald."

Ich steige ein in den überfüllten Zug, und im Stehen überstürzen sich meine Gedanken, entfernen sich von dem eben beendeten Hausbesuch und wandern weit, weit fort in das ferne Palästina. Ab und zu streift mein Blick durchs Fenster nach draußen. Drohend schauen mich die großen Bandstreifen an, die an den rußgeschwärzten kahlen Rückseiten der Mietskasernen neuerdings angebracht sind: "Führer befiehl, wir folgen Dir!" Ich frage mich, wird auch mich das gleiche Schicksal treffen, werde auch ich solch einen Brief bekommen? Und was dann?

 

Mai 1933

 

Von März bis heute: Eine Welt war über mir zusammengestürzt. Mein Brief von der Städtischen Behörde kam wenige Tage später. Eine gänzlich neue Welt ist im Entstehen. Mein Jugendgefährte und ich haben uns verbunden, den Bund fürs Leben geschlossen. Einer steht nun für den Anderen auf diesem neuen Wege, von dem es kein "Zurück" mehr gibt. Kurze Zeit nach unserer Verbindung verließen wir die Heimatstadt.

 

Quelle: Margot (Miriam) Boch-Wresinski, Streiflichter aus dem einfachen Leben einer deutsch-jüdischen Einwanderin. © Wilma Reich, Texas. Zitiert aus Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900-1990. Hrsg. Andreas Lixl-Purcell. Leipzig: Reclam, 1993.


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