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Elisabeth Endres
Der neue Geist der frühen Jahre
Zum Autor: Elisabeth Endres, geboren 1934 in München, arbeitete nach dem Krieg als Kulturkorrespondentin in London. Seit 1969 lebte sie als freie Schriftstellerin und Kritikerin in Bayern. Endres ist besonders mit einem Buch über die "Literatur der Adenauerzeit" bekannt geworden.
Zum Text: Endres beschreibt das kulturelle Klima und den Zeitgeist der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik. Ihr Text spiegelt den Versuch der jüngeren Generation, nach Faschismus und Krieg wieder Anschluß zu finden an die Traditionen der internationalen Moderne in den freien Künsten.
Elis abeth Endres, Der neue Geist der frühen Jahre
An einem sonnigen Spätsommertag der frühen fünfziger Jahre saß ich im Englischen Garten meiner Heimatstadt München und las Franz Kafka.
Ich hatte mir eine Tüte voll klebriger Himbeerbonbons gekauft. Sie waren von einem seltsamen Geschmack, sicher sehr kalorienhaltig. Ich mußte achten, daß ich das Buch nicht schmutzig machte, denn es gehörte mir nicht. Wahrscheinlich hatte ich es einer Bibliothek entliehen oder einer guten Freundin. Um Kafka zu kaufen, fehlte mir das Geld.
Mit süßsaurem Geschmack auf der Zunge las ich also Kafka; und merkte, das ist etwas anderes als Hugo von Hofmannsthal, als Rainer Maria Rilke, von denen man noch auf der Schule erfahren hatte. Verwandt den Franzosen und Angelsachsen, die man auf der Bühne sah, aber doch noch konsequenter. Ich hatte viel gelesen. Nun kam es wieder heraus, als Gefühl: ja, so verloren sind wir. Das ist unsere Wirklichkeit: die neue, die unserer Welt.
Im Jahr 1957 publizierte der Literaturkritiker Günter Blöcker ein Buch, das den Titel trug "Die neuen Wirklichkeiten". Blöcker stellte seinen Lesern jene Autoren vor, die neue Möglichkeiten der Literatur erkundet hatten. Es waren die Klassiker der Moderne, zum größten Teil Ausländer der westlichen Hemisphäre, Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts. Um ein paar Namen zu nennen: Henry James, James Joyce, Marcel Proust, Paul Valéry, Federico Garcia Lorca, Ernest Hemingway, Gertrude Stein, Albert Camus, Henry Miller, André Gide. Wir interessierten uns für diese Dichter. Es mußte ja so viel nachgeholt werden. In der Nazi-Zeit waren die Werke von jüdischen und linken Schriftstellern auf den Scheiterhaufen verbrannt worden.
Eine neue Moderne wurde begrüßt, wobei man sich über die Kriterien noch nicht sicher war. Es genügte häufig, daß der Autor aus dem Ausland kam. Man las fasziniert die Bücher, die Lebenszeugnisse von André Gide, man las ebenso fasziniert den Roman "Bonjour Tristesse" von Françoise Sagan, der 1955, ein Jahr nach seinem Erscheinen in Frankreich, auch in der Bunderepublik herauskam.
Kafka war unser Joyce, unser Einschnitt in die Literatur, unser Beginn des modernen Schreibens. 1919 hatte er die Erzählung "Ein Landarzt" publiziert, in der sich die frappierend fremdartige, das Gefühl gefährdende Passage findet: "Nackt, dem Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt - es ist niemals gutzumachen." 1949 und 1959 empfand man diese Sätze immer noch so, als bildeten sie eine Wasserscheide. Vor ihnen gab es die publikumsfreundliche, gesellschaftlich vermittelbare Literatur der germanistischen Handbücher, nach ihnen gab es die radikal richtige Reaktion auf dieses Zeitalter.
Quelle: Elisabeth Endres, Der neue Geist der frühen Jahre. In Dieter Frank (Hrsg.). Die fünfziger Jahre. Als das Leben wieder anfing. München; Zürich: R. Piper & Co. Verlag, 19981, S. 126-27.
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Letzte Bearbeitung: Mai 1997
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